Opfer aus Willkür "Er freute sich auf ein neues Leben"

Stand: 25.08.2007 20:18 Uhr

Anfang der 50er Jahre: Die DDR ist seit drei Monaten ein souveräner Staat. Doch die UdSSR betrachtet das Land noch als besetztes Gebiet. Für viele Familien in Mecklenburg-Vorpommern wird der Wunsch nach einem normalen Leben nicht in Erfüllung gehen, denn der sowjetische Bruderstaat geht mit brutaler Härte gegen kritische Stimmen vor.

Etwa zehn Monate ist die DDR alt, als das Schicksal von Gerhard Priesemann entschieden wird. Priesemann ist 39 und will sich nach der Kriegsgefangenschaft mit seiner sechsköpfigen Familie ein neues Leben in Schwerin aufbauen. Auch Arno Franke aus Nielitz bei Grimmen hat viele Pläne. Gemeinsam mit seiner Frau und seinen zwei Kindern will er ein Haus bauen. Eduard Lindhammer ist 1950 erst 18 Jahre alt und geht zur Schule.

Drei Menschen, drei Schicksale. Sie alle geraten ins Visier des sowjetischen Geheimdienst und des neu gegründeten Ministerium für Staatsicherheit, das der sowjetischen Bruderorganisation MGB in die Hand arbeitet. Den drei Männern wird zum Verhängnis, dass sich die sowjetische Justiz als ein politisches Gericht versteht. Sie wird auch auf dem Boden der SBZ (Sowjetische Besatzungszone) und der jungen DDR aktiv, weil die UdSSR die DDR als Vorposten des eigenen ideologischen Lagers versteht. Aus Angst vor Spionage und vor dem Widerstand gegen die Besatzungsmacht geht der MGB mit brutaler Härte gegen jede kritische Stimme vor – auch gegen Arno Franke, Gerhard Priesemann und Eduard Lindhammer.

Hoffnung auf ein neues Leben

Jürgen Franke aus Demmin verliert seinen Vater mit drei Jahren: „Mein Vater hat sich bei der CDU engagiert und wollte ein anderes System, als das, was er in Russland gesehen hatte. Und da hat er sich wohl schon ein paar Feinde gemacht.“ Ähnlich ergeht es Gerhard Priesemann, der als Planungsstatistiker bei der Verwaltung Volkseigener Betriebe in Schwerin arbeitet. Sein Vater sei damals ein ausgesprochen familienbezogener Mann gewesen, erzählt sein Sohn Christoph Priesemann. Er habe sich gefreut, dass der Krieg vorbei ist und dass er endlich mit der Familie zusammen sein kann. Gleichzeitig engagiert sich Gerhard Priesemann in der CDU. Er ist erbost, als der CDU-Vorsitzende Jakob Kaiser 1947 von der sowjetischen Besatzungsmacht abgesetzt wird, weil er sich gegen die Abhängigkeit der CDU von der SED wehrt. Gerhard Priesemann steht weiter zu Jakob Kaiser und hält den Kontakt zwischen Schwerin und Westberlin aufrecht, wohin Kaiser geflüchtet ist. Durch dieses politische Engagement sei sein Vater in tödliche Gefahr geraten, meint Christoph Priesemann.

Tatsächlich sind das Recht auf freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, offene und freie Wahlen in dem sozialistischen Staat nur pro forma festgeschrieben, erklärt Anne Drescher. Sie arbeitet in der Geschäftsstelle des Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern. Oft ahnen die Betroffenen nicht, warum sie verhaftet werden. „Sie haben nicht begriffen, dass die harmlose kritische Bemerkung in der Kneipe solche drastischen Folgen nach sich ziehen kann“, meint Drescher.

Opfer in vielen Familien

Kaum eine Familie in Mecklenburg-Vorpommern ist von den Verhaftungen nicht betroffen. Denn jeder kann ins Visier der Geheimdienste geraten – egal ob Mann, Frau oder Kind, Theologe, Student oder Bauer. Sogar zwölfjährige Kinder werden in dieser Zeit zu langjährigen Haftstrafen in Arbeitslagern verurteilt, denn sie gelten nach sowjetischem Recht als voll straffähig. Insgesamt werden mehr als 40.000 Deutsche zwischen den Jahren 1945 bis 1955 von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt. Gleichzeitig werden die Bürger seit der Gründung der DDR immer unzufriedener. Sie beginnen, sich gegen die undemokratischen Verhältnisse in der DDR zu wehren. Dies sei ein Grund dafür, dass die Zahl der Todesurteile in den Jahren 1951 und 1952 so rapide gestiegen ist, meint Drescher.

Auch für Eduard Lindhammer führt sein parteipolitisches Engagement zur persönlichen Katastrophe. Als 18-jähriger besucht er die Schweriner Goethe-Schule. Lindhammer interessiert sich für Literatur und Boxen und ist seit 1947 Mitglied in der Liberal-Demokratischen Partei. Er und seine Freunde aus der LDP suchen nach Alternativen zu der politischen Entwicklung in der DDR. Weil er seine Meinung auch auf Flugblättern zum Ausdruck bringt, wird er aus dem Englischunterricht geholt und Mitte 1950 verhaftet. Etwa ein Jahr muss er die unmenschlichen Haftbedingungen und Verhörmethoden im Schweriner Untersuchungsgefängnis ertragen. Weitere fünf Jahre wird er gezwungen bei bis zu Minus 60 Grad Celsius im sibirischen Lager Workuta zu arbeiten.