Multimedia-Spezial Tod im LKW

Stand: 21.08.2016 17:00 Uhr

Von E. Kuch, S. Pittelkow, V. Kabisch, G. Heil und J. L. Strozyk

Tod im LKW

27. August 2015, eine Autobahn in Österreich nahe Wien. Mehr als 24 Stunden steht ein LKW auf dem Randstreifen. Im Laderaum 71 Tote – noch während der Fahrt sind sie erstickt. In der sengenden Sonne erhitzt sich das Innere des Fahrzeugs auf beinahe 80 Grad. Die Körper werden förmlich gekocht. Die Bilder gehen um die Welt, die Geschichte von der Todesfahrt in dem LKW mit dem Hühnchenaufdruck verändert die Flüchtlingsdebatte in Europa.

Die Rekonstruktion einer Tragödie.

Startpunkt einer ungewissen Reise

Die Menschen, die an Bord des LKW den Tod fanden, wollten nach Deutschland. Sie waren auf der Flucht vor Krieg und Gewalt, aus Afghanistan, aus Syrien, aus dem Irak. Die Fahrt mit dem Lastwagen sollte die letzte Etappe einer anstrengenden, wochenlangen Reise sein.

Diese Etappe beginnt in einem Haus wie diesem hier: Ein sogenanntes Safe-Haus an der serbisch-ungarischen Grenze in der Nähe der Stadt Subotica. Schlepper lassen Flüchtende hier warten, bis genug für eine neue Fahrt beisammen sind. Auch die 71 Menschen, die in dem LKW sterben, harrten in Häusern wie diesem aus.

Familie

In einem Waldstück kurz hinter der ungarisch-serbischen Grenze sollen die Menschen in den LKW steigen. Etwa acht Stunden marschieren sie durch das Grenzgebiet. Der Grenzzaun ist fast fertig, aber noch gibt es Löcher. (Szene nachgestellt)

Auch Elen, ihr Bruder Alend (unten) und der Onkel Herish laufen an diesem Tag durch den Wald im Grenzgebiet. Die Jesiden sind aus dem Irak vor dem selbsternannten Islamischen Staat geflohen. Elen ist 14, ihr Bruder zwei Jahre älter. Herish ist 21. Sie wollen in Deutschland studieren. Unterwegs schicken sie letzte Fotos an die Familie im Irak.

Abfahrt im Wald

Kurz vor Sonnenaufgang, werden die Menschen auf die Ladefläche des LKW geschoben. Am Ende kommen auf einen Quadratmeter fünf Personen. Eigentlich war ein Transport per Auto versprochen worden, von einem LKW war offenbar nie die Rede. Das berichten Angehörige später.

Rund 1600 Euro kostet der Transport pro Person. Bezahlen ließen sich die Schlepper per Vorkasse. Zunächst wollten sie offenbar noch mehr Menschen in den LKW stopfen - doch er war zu schwer und fuhr nicht los. Mit 71 Menschen fährt er schließlich auf die Autobahn.  (Szene nachgestellt)

Gerald Tatzgern leitet die Zentralstelle Schleuserkriminalität beim Bundeskriminalamt in Österreich.

Die Route

Um halb sechs Uhr morgens fährt der LKW bei Domaszek los. Die Route verläuft zunächst nach Norden in Richtung Budapest, dann nach Westen in Richtung Wien. Der Lastwagen fährt mit 80 Kilometern pro Stunde über die Straße. (Szene nachgestellt)

Pausen gibt es keine. Bereits nach 45 Minuten, so rekonstruieren es Gutachter, verlieren die ersten Menschen das Bewusstsein. In ihrer Panik versuchen einige, Notrufe abzusetzen und Nachrichten zu versenden. Aber die Wand aus doppelten Aluminium isoliert zu stark – die Handysignale gelangen nicht nach außen.

Johann Fuchs war als Staatsanwalt im Burgenland mit dem Fall befasst.

Das Ende einer verhängnisvollen Fahrt

Kurz vor Wien stellen die Schlepper den LKW in einer Notfall-Bucht an der Autobahn ab. Warum ist bis heute unklar. Vielleicht wissen die Schleuser, dass sie die 71 Menschenleben auf dem Gewissen haben, und fliehen. Sicher ist, dass bereits vor dem Grenzübertritt nach Österreich alle Menschen erstickt sind. Als Polizisten den LKW auffinden, steht er bereits 24 Stunden in der Sonne. Von der Ladefläche tropft Leichenflüssigkeit.

Vom Fahrer und dem Begleitfahrzeug, das einige Kilometer vorweg gefahren ist, um nach Kontrollen Ausschau zu halten, fehlt zunächst jede Spur. Die ungarische Polizei nimmt die Männer kurz darauf fest. Die Ermittlungen laufen bis heute, die Beschuldigten schweigen in Vernehmungen. Anklage soll im Herbst erhoben werden. 

Die Opfer

Den Ermittlern bietet sich ein Bild des Grauens: Im Inneren des LKW sind die toten Körper übereinander gefallen, aufgrund der hohen Temperaturen - Gutachter gehen von bis zu 80 Grad Celsius aus - sind die Organe regelrecht gekocht. Gesichter sind bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Lange Zeit nach dem Auffinden ist noch unklar, wie viele Menschen sich in dem LKW befunden haben - man ist zunächst schlicht nicht in der Lage, die Leichen auseinander zu halten.

Forensiker finden im Inneren des LKW auch ein Tagebuch von Elen, dem jungen Mädchen aus dem Irak. Offenbar hat sie auf der Flucht Englisch-Übungen gemacht. "I love u Dad" - "Ich liebe dich, Papa", steht dort. Und "I miss my Family, but in the same time I want to go to Germany" - "Ich vermisse meine Familie, will aber nach Deutschland reisen." Es sind die letzten Eintragungen.

350 Gegenstände werden untersucht

In mühevoller Kleinarbeit versuchen die österreichischen Polizisten die gefundenen Gegenstände zuzuordnen. 350 Aservate haben sie untersucht. Wer trug die weißen Turnschuhe, wem gehörte die blaue Tasche? Trotzdem können sie bis heute nicht genau sagen, wie die letzten Stunden im Inneren des LKW abgelaufen sind.

Ein letztes Lebenszeichen

Vor allem Sim-Karten und Telefone geben Aufschluss, auch einige Pässe finden die Ermittler und etwas Bargeld. 16 Handys konnten sie auswerten. Um 7:28 Uhr versuchte einer der eingeschlossenen Flüchtenden noch eine SMS zu schicken. Erfolglos.

Alends rotes Hemd

Dieses rote Hemd trug Alend, der junge Jeside aus dem Irak, an dem Tag, als er seinen Vater das letzte Mal sah. Gemeinsam mit seiner Schwester Elen, seinem Onkel Herish und seinem Vater posiert Alend für ein Abschiedsfoto.

Der Vater, Heli Kali, ist im Irak zurück geblieben. Er wartete vergebens auf ein Lebenszeichen von Alend, Elen und Herish.

Rückflug in die Heimat

Die kurdische Regierung hat Familie Kali dabei unterstützt, die Leichen von Elen, Alend und Herish in ihre Heimat im Nordirak zurück zu transportieren. Dort sind sie begraben. Mehrere Wochen waren sie auf der Flucht, aus dem Nordirak über die Türkei nach Serbien, bis sie schließlich in Ungarn in den LKW gestiegen sind.

Der zweite LKW

Die Todes-Fahrt, die auf dem Standstreifen in Österreich endete, war nicht die erste Fahrt der Schleuser. Nur neun Tage zuvor greift die deutsche Polizei einen nahezu baugleichen Lastwagen in Sachsen auf, kurz hinter der Grenze. Darin: 81 Menschen. Überlebt haben sie nur, weil einer von ihnen mit einer Krücke einen Luftschlitz in die Decke gestoßen hat.

Zwölf Stunden dauerte diese Fahrt, ohne Essen, kaum Wasser, ohne Pause. Auch Kinder waren in dem LKW. Die Fahrt ging für die Menschen aus Afghanistan und Syrien glimpflich aus. Für die Polizei war sie im Rückblick ein Glücksfall: Sie konnte den Fahrer des LKW festnehmen und Informationen über die Schleuserbande sammeln: Der Fahrer hat als Zeuge umfassend ausgesagt.

Bedrückende Enge

Einer der Überlebenden aus dem zweiten LKW hat mit seinem Handy ein Video aufgenommen. Die flackernden Bilder zeigen verstörte Menschen, ein bewusstloses Kind. Alle haben die Fahrt überlebt.

Der zweite Fahrer

Die JVA Bautzen. Hier sitzt Ilmaz A. ein: Verurteilt zu 4,5 Jahren, wegen gewerbs- und bandenmäßigem Einschleusens von Ausländern. Er fuhr den zweiten LKW, der bei Pirna in Sachsen entdeckt wurde.

In einem exklusiven Interview mit dem NDR erklärt Ilmaz A. das Geschäft. Er belastet einen Mann mit dem Spitznamen Mitko schwer.

Der Abwickler

Mitko heißt eigentlich Metodi G. Er ist Teil der Schleuser-Bande, die nicht nur für den Todes-LKW und die Fahrt nach Sachsen verantwortlich gewesen ist, sondern für insgesamt 30 Fahrten, 13 davon mit dem Ziel Deutschland. Die Schleusung im LKW mit dem Hühnchenaufdruck hätte 100.000 Euro gebracht.

G. ist einer der Abwickler der Bande. Er hat mutmaßlich auch Ivailo S. rekrutiert, den Fahrer des Todes-LKW. Die Fahrer, die er anheuert, kommen fast alle aus Metodi G.s Heimatstadt Lom, einer armen Region in Bulgarien.

Die Schleuser haben ihr Geschäft aufgeteilt: Neben den Abwicklern und Fahrern gibt es noch die Chefs: Kassim S. (vorne rechts) und Samsooryamal L. (vorne links). L. ist den Ermittlungen zufolge eine Art Geschäftsführer. Der Afghane spricht mehrere Sprachen, er pflegt die Kontakte, organisiert die Flüchtenden für die Schleusungen.

Kassim S. hat die Fahrzeuge besorgt, wohl auch den LKW mit dem Hühnchenaufdruck, in dem 71 Menschen ihr Leben verlieren. Er ist auf seinen Namen zugelassen. Metodi G. (Mitte rechts), der Mann den der inhaftierte Fahrer Ilmaz A. belastet hat, hat die Fahrten abgewickelt.

Selbsternannter "Businessman"

In sozialen Netzwerken präsentiert sich Samsooryamal L. als erfolgreicher Unternehmer, der mit teuren Autos durch Europa fährt.

Die Ermittlungen gegen die Gruppe laufen noch. Im Interview mit dem NDR schließt Chefermittler Gerald Tatzgern nicht aus, dass die Schleuser Kontakte zu anderen Schlepperbanden hatten.

Die Suche nach Antworten

71 Menschen mussten sterben, weil eine Gruppe Schleuser das schnelle Geld witterte. Bis heute ist unklar, warum genau der LKW abgestellt worden ist. Die sechs Schleuser sitzen in Ungarn in Untersuchungshaft. Die Ermittlungen laufen, eine Anklage soll es im Herbst geben. Die Männer schweigen bislang.

Unterdessen gehen die illegalen Flüchtlingstransporte weiter. Die LKW der vielen anderen Schlepperbanden fahren immer noch.

Credits

Autoren: Georg Heil, Volkmar Kabisch, Elena Kuch, Amir Musawy, Sebastian Pittelkow und Jan Lukas Strozyk

Redaktion: Britta von der Heide, Petra Nagel, Dirk Neuhoff und Stephan Wels

Graphik: Fritz Gnad

Musik: Insa Rudolph

Eine Recherche von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung".

Weitere Informationen auf tagesschau.de:
Mitglied der Schlepperbande belastet Komplizen schwer