Zwischen High-Tech und Armut Eine Mutter setzt die Mächtigen unter Druck

Stand: 06.05.2008 15:29 Uhr

Israel gilt gemeinhin als High-Tech-Staat - und das stimmt auch. Dennoch: Immer mehr Israelis leben in Armut. Ein Grund dafür sind die massiven Ausgaben für die innere Sicherheit und das Miltiär. Die große Zahl der "working poor", also derjenigen, die trotz Arbeit nicht genug Geld zum Leben haben, wächst. Für sie - und für diejenigen, die gar keine Arbeit haben, ist die Lage außerordentlich schwierig.

Von Sebastian Engelbrecht, ARD-Hörfunkstudio Tel Aviv

Vicky Knafo, die berühmteste Alleinerziehende Israels, lebt in einem vierstöckigen Beton-Wohnriegel. Ein Café gibt es immerhin in dem 5000-Einwohner-Städtchen tief im Süden Israels, in der Negev-Wüste. Auf der Terrasse lungern ein paar Jugendliche herum, zünden Knaller und langweilen sich.

Vicky Knafo, eine Frau um die Fünfzig, führt den Besucher in ihre enge Behausung im ersten Stock und erzählt ihre Geschichte: Wie sie vor fünf Jahren, im Sommer 2003, aus Protest gegen die Sozialkürzungen des damaligen Finanzministers Benjamin Netanjahu auf die Straße ging und zu Fuß nach Jerusalem marschierte, um ihn dort zu treffen. "Ich wusste: Wenn ich warte, wird meine Situation zu Hause immer schlimmer. Ich sagte mir, ich habe keine Zeit, ich gehe zu Fuß, er wird mich empfangen. Einfach so habe ich das gesagt, vor lauter Ärger: Ich gehe zu Fuß", erinnert sich Vicky.

"Ich ging einfach los"

Knapp 200 Kilometer legte die alleinerziehende Mutter von drei Kindern damals zurück. Sie war empört, weil ihr der staatliche Lohnzuschuss gekürzt worden war. Etwa 400 Euro verdiente sie damals als Köchin im Kindergarten einer Armeebasis, ungefähr 300 gab der Staat dazu, damit sie den Mindestlohn erreichte. Netanjahu strich den Zuschuss. Und Vicky lief los. Nach zwei Tagen begleitete sie ein unüberschaubar großer Tross aus Journalisten, Fernsehteams und Sympathisanten. "Ich bin fünf Tage gelaufen, und ein ganzer Staat war dabei. Offenbar verstanden die Leute, dass die Lage ernst ist, aber sie warteten auf jemand, der was tut." Außerdem sei gerade Waffenstillstand mit den Palästinensern gewesen, es sei nichts los gewesen. "Also haben sie sich mit mir befasst. Es war genau der richtige Augenblick, ganz unerwartet. Es klappte wunderbar. Ich hatte nichts vorbereitet. Nichts. Ich ging einfach los."

Schließlich erreichte sie Jerusalem. Netanjahu, im Volksmund "Bibi" genannt, geriet unter Druck. Erst wollte er Vicky Knafo mit einem nächtlichen Treffen ohne Kameras und Mikrofone abspeisen, dann schickte er seine Berater. Knafo verlangte ein persönliches Gespräch in seinem Ministerium. "Ich sagte ihm, der Staat hat viel Geld, das muss gerecht geteilt werden. Das ganze Geld geht nur für Sicherheit drauf. Sicherheit, Sicherheit! Für den Wohlstand der Menschen ist nichts übrig! Das ist doch ein sozialistischer Staat - und er ist Kapitalist. Man kann diesen Staat nicht im Handumdrehen verwandeln. Netanjahu sagte immer: Ich mache das hier wie in Amerika."

Sebastian Engelbrecht, S. Engelbrecht, ARD Tel Aviv, 05.05.2008 16:15 Uhr

Heute geht es Vicky schlechter als vorher

Nach drei Monaten besiegte Vicky Knafo den Finanzminister: "Bibi" nahm die Kürzung der Einkommenszuschüsse für Bedürftige zurück. Zwei Jahre später allerdings, als sich die Aufregung um Vicky längst gelegt hatte, wechselte die Regierung. Der Zuschuss zum Gehalt für Alleinerziehende fiel wieder weg. Und heute geht es Vicky Knafo noch schlechter als vor ihrem Marsch ins Zentrum der Macht. "Olmert ist eine andere Regierung - da muss man noch mal zu Fuß losgehen und noch mal kämpfen. Jetzt ist die Lage schlimmer. Für alle, nicht nur für die Alleinerziehenden. Denn alles wird teurer: das Benzin, der Strom - und das Mindesteinkommen liegt sehr niedrig. Man kann nicht alles bezahlen - und am Ende bleibt kein Geld fürs Essen", schimpft sie.

Vicky ist immer noch bettelarm. Im Winter kann sie sich keine Heizung leisten. Ihre 22-jährige Tochter ist arbeitslos, wohnt bei ihr und tut nichts. Dem 12-jährigen Sohn kann sie keine Kleidung für den Sommer kaufen. Und das Schlimmste: Der ältere Sohn starb vor zwei Jahren - an einer Überdosis Drogen. "Vicky, taqumi", "Vicky - steh auf", rufen die Leute jetzt. Aber sie wartet ab.