Porträt eines Landes in der Krise Italia, come stai?

Stand: 01.07.2014 12:01 Uhr

Wie steht es um Italien, das am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat? Um eine Antwort zu finden, kann man sich Statistiken anschauen. Oder man kann mit Italienerinnen und Italienern sprechen, die aus ihrem Leben erzählen.

Von Jan-Christoph Kitzler, ARD-Hörfunkstudio Rom

Wie steht es um Italien, das am 1.Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat? Um eine Antwort zu finden, kann man sich Statistiken anschauen. Oder man kann mit Italienerinnen und Italienern sprechen, die aus ihrem Leben erzählen. Begegnungen und Gespräche mit den Menschen im Land geben lebendige Einblicke, die helfen, sich ein Gesamtbild davon zu machen, wie es Italien geht.

Denn die persönlichen Geschichten sind eng verwoben mit der Politik und Wirtschaft des Landes, mit den großen Themen von der Jugendarbeitslosigkeit über Seilschaften bis zu Eigeninitiative oder Verdruss über den Staat.

Fünf Italiener und Italienerinnen, fünf Geschichten: Für politisches Engagement hat sich die Deutsch-Italienerin Laura Garavini entschieden. Weil an den Universitäten chronischer Geldmangel herrscht, hat sich der Wissenschaftler Michele Bolla entschlossen, einen Job im Ausland anzunehmen. Ihre Kinder unterstützt die Rentnerin Elvira Guida, denn deren Generation ist die erste, der es nicht besser geht als der vorherigen. Antonio De Matteis, Geschäftsführer eines Modehauses, setzt mit Erfolg und Investitionen auf das Prinzip "Made in Italy". Und die Schauspielerin und Aktivistin Francesca De Santis steht für ein erfolgreiches Theaterprojekt in Rom, einer Erfolgsgeschichte, die wie so viele in Italien nicht vom Staat ausgeht.

Laura Garavini: Kampf gegen die Politikverdrossenheit

Das Abgeordnetenhaus liegt mitten in der römischen Altstadt. Das Gebäude wird schwer bewacht, denn immer wieder gibt es Demonstrationen auf dem Platz davor. "La Casta" - die Kaste - nennen die Demonstranten die, die drinnen sitzen. Der Politikbetrieb ist in den Augen vieler Italiener zu einem Selbstbedienungsladen verkommen, unfähig, die Probleme des Landes zu lösen.

Drinnen hat Laura Garavini gerade die deutsch-italienische Parlamentariergruppe wiederbelebt. Heute leitet sie eine Konferenz mit dem deutschen Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth. 

"Ich besitze sowohl die deutsche als auch die italienische Staatsangehörigkeit, weil ich seit über 20 Jahren in Deutschland lebe", sagt sie. Sie sei aber "für die Sozialdemokratische Partei Italiens, Partito Democratico, also die Schwesterpartei der SPD, gewählt worden von den Italienern, die in Europa leben".

Es ist ihre zweite Legislaturperiode im Abgeordnetenhaus. Laura Garavini sitzt im Auswärtigen sowie im Anti-Mafia-Ausschuss und ist Mitglied im Fraktionsvorstand. Das bringt gewisse Vorteile: Ihr Büro ist zwar nicht besonders groß und eher spartanisch eingerichtet, aber immerhin ihres. Keine Selbstverständlichkeit in Italien: Als "normaler Abgeordneter teilt man sich ein Büro mit einem Kollegen und hat kein Sekretariat", erklärt Laura Garavini. Der Abgeordnete könne entscheiden, ob er Mitarbeiter einstellt oder nicht - auf seine eigenen Kosten. Sie habe am Anfang drei Mitarbeiter gehabt, "aber im Nachhinein habe ich mich leider von ihnen teilweise trennen müssen, weil ich mir das nicht leisten konnte".  

Den Vorwurf, italienische Politiker seien die bestbezahlten in Europa, lässt sie nicht gelten. Denn Bundestagsabgeordnete bekommen zum Beispiel ihre Mitarbeiter vom Parlament bezahlt.

Wenig Zeit für viele Probleme

Weil ihr Wahlkreis Europa ist, muss Laura Garavini viel unterwegs sein. Zeit für die Familie in Hamburg bleibt da nur wenig. Und bei ihren Terminen schlägt ihr mitunter regelrechter Hass entgegen. Die allermeisten Italiener halten nicht viel von ihren Politikern. Laut Meinungsforschungsinstitut Eurispes haben mehr als 73 Prozent kein Vertrauen in die staatlichen Institutionen. In das Parlament haben sogar fast 90 Prozent kein Vertrauen. Politikverdrossenheit ist da noch ein harmloses Wort.

Laura Garavini, deren Partei mit Matteo Renzi gerade den Ministerpräsidenten stellt, erklärt das mit Problemen der Vergangenheit. Es sei "wenigstens 20 Jahre lang eine schlechte Politik gemacht worden". Und "wegen der wirtschaftlichen Krise, die auch Italien betrifft, sind die Probleme einfach unheimlich gewachsen". Es sei klar, dass man nicht alles von heute auf morgen lösen könne, meint Laura Garavini. Das Ansehen der Politik habe unheimlich gelitten und die Politikverdrossenheit sei massiv gestiegen. "Das sind alles Faktoren, die das Ganze noch schwieriger machen."

Ministerpräsident Renzi inszeniert sich als zupackenden Reformer. Jeden Monat, so hat er nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten im Februar angekündigt, solle es eine neue Reform geben: des politischen Systems, der gefürchteten italienischen Bürokratie, des Arbeitsmarktes. Jetzt dauert alles doch etwas länger, als der jugendliche Renzi versprochen hat.

Immerhin: Geringverdiener haben seit Mai 80 Euro mehr in der Tasche, das soll den Konsum ankurbeln. Die Provinzen mitsamt ihren Parlamenten und den vielen Versorgungsposten für Lokalpolitiker wurden abgeschafft. Der Staat hat begonnen, offene Rechnungen zu bezahlen. Der Zahlungsverzug hatte viele kleine und mittlere Betriebe in die Pleite gestürzt.

Zudem soll die zweite Kammer des italienischen Parlaments entmachtet und verkleinert werden. Dann müssen wohl die meisten Senatoren auf ihre "Poltrona", den Abgeordnetensessel, verzichten. "Poltrona" steht in Italien meist für Versorgungsposten, die wegen guter Beziehungen vergeben werden - und nicht wegen guter Leistungen.

Laura Garavini zeigt sich auf jeden Fall zuversichtlich, dass Italien auf dem richtigen Weg sei, um Europa voranzubringen, "indem wir versuchen, Europa demokratischer und transparenter zu machen". Europa sei ein großartiges demokratisches Projekt, dem Italien noch mehr Stärke geben werde.

Michele Bolla: Depression beim Blick auf das Konto

Den Blick fest auf Europa gerichtet hat auch Michele Bolla Pittaluga, wenn auch aus ganz anderen Gründen: In Italien sieht der junge Wissenschaftler keine Perspektiven. Deshalb hat er jetzt einen Job in Den Haag angenommen.

Doch erst einmal fließen Tränen - nämlich in einer Schule in Genua. Maria muss sich von ihren Klassenkameraden verabschieden. Es ist ihr letzter Schultag hier. Das neue Schuljahr wird Micheles Tochter in den Niederlanden beginnen.

In Italien passiere das oft, erzählt Michele. "Man wird in einer Stadt geboren, besucht dort die Uni und sucht sich dann in derselben Stadt Arbeit. Ich bin in Genua geboren, habe hier studiert, mein Doktorat gemacht und habe dann hier meine Anstellung gefunden." Nun verlässt er mit seiner Frau und den Kindern Genua. "Das war jetzt sicher eine schwere Entscheidung für die Familie, doch sie macht gern mit bei diesem Abenteuer", meint Michele.

Sehr oft hat Karriere nichts mit Können zu tun

Bei Maria hält sich der Enthusiasmus heute in Grenzen. Alle müssen ihre Sachen packen, die ganze Familie wird umziehen: Michele, seine Frau und die vier Kinder. Dabei ist es für den gelernten Ingenieur bislang ziemlich gut gelaufen: "Ich bin Forscher mit Festanstellung und Doktorat. Doch abgesehen von dem anfänglichen Glück, ist mir klar geworden, dass es sehr schwer ist, hier Karriere zu machen. Sehr oft hat das nichts mit dem eigenen Können zu tun."

Womit wir wieder bei der "Poltrona" wären, dem Versorgungsposten. An den italienischen Universitäten laufen viele Stellenbesetzungen über Seilschaften. Und oft kommen nicht die Besten nach oben, sondern die, die die mächtigsten Fürsprecher haben, oder "figlio di" sind - also Sohn oder Tochter von einem, der Macht hat.

Aber das ist nicht das einzige Problem: Die italienischen Universitäten sind, mit sehr wenigen Ausnahmen, dramatisch unterfinanziert. Auch an der ingenieurwissenschaftlichen Fakultät in Genua ist die Ausstattung schlecht. Neue Computer oder Forschungsgeräte zu bekommen, das ist ein riesiges Problem. Manchmal ist die Frage dringender, wie man das Kopierpapier oder die Reparatur der Klimaanlage bezahlt - von neuen Professorenstellen mal ganz abgesehen.

Es gibt ein weiteres Argument, das hat Ausschlag gegeben hat für Michele Pittalugas Entscheidung: "In meinem Fall und in vielen anderen weiß man nicht, ob und wann es Geld geben wird für höhere Posten. Der akademische Bereich wird Jahr für Jahr kleiner, weil nur ein Teil der Professoren, die in Rente gehen, ersetzt werden."

Ein Netzwerk für den Alltag

Mittags kommt Michele meist nach Hause, um seine Kinder zu sehen. Und auch, weil Federica, seine Frau, arbeitet. Ihr Gehalt als Ärztin wird dringend gebraucht. Bei vier Kindern ist nicht nur Geld das Problem, sondern bei zwei berufstätigen Eltern auch die Organisation. Ohne Hilfe ist das nicht zu schaffen. "Wir brauchen Excel-Listen, auf denen die Termine aller stehen", sagt Michele. "Wir brauchen viel Hilfe. Und glücklicherweise haben wir sehr effiziente Großeltern, eine Kinderfrau, die sich um die Kleinen kümmert und wie eine Ersatzmutter ist. Denn die Mama arbeitet und kommt erst abends nach Hause. Dann haben wir noch eine Putzfrau. Also ein ganzes Netz von Leuten, die helfen."

Der anstehende Umzug war am Ende eine finanzielle Frage: Michele, der gelernte Ingenieur, ist an der Universität Genua "Ricercatore", also eine Stufe unter dem Professor. Er hat schon in den USA geforscht, in Spanien und in Schottland. Aber Chancen, selber Professor zu werden, sieht er erst einmal nicht. Er gehe jeden Morgen mit großer Lust zur Arbeit. Die Depression setze erst ein, wenn er sich sein Bankkonto anschaue und klar werde, dass das Geld nicht bis zum Monatsende reichen werde. "Und wenn dann Arbeitsangebote kommen, bei denen du fünfmal so viel verdienst wie jetzt, für mehr oder wenig dieselbe Arbeit, klar, dann packt man seine Sachen und geht."

"Flucht der Gehirne"

"Fuga dei cervelli" nennen sie das hier - "Flucht der Gehirne". Auf neudeutsch "brain drain". In den vergangenen fünf Jahren haben 94.000 Italiener zwischen 15 und 35 das Land verlassen. Zumindest offiziell. Unter ihnen viele Akademiker. Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von zurzeit mehr als 46 Prozent ergreift, wer kann, die Flucht. Für Michele Bolla aber ist das eine Flucht mit Rückversicherung. Für ein paar Jahre kann er unbezahlten Urlaub nehmen, und wenn er dann zurückkommt, stehen seine Chancen an der Uni hoffentlich besser.

Er steige für maximal drei Jahre aus, sagt Michele, und hoffe, dass sich in den drei Jahren etwas ändere. In der Zwischenzeit wolle er Kontakte knüpfen und sich weiter qualifizieren, um sich wieder in die akademische Welt eingliedern zu können.

Elvira Guida: Hoffnung auf ein Gefühl der Wiedergeburt

Elvira Guida lebt in einer guten Gegend in Rom. Die Wohnung ist voller Bücher und gehört ihr. Das ist nichts Besonderes: Mehr als 80 Prozent der italienischen Familien wohnen im Eigenheim. 38 Jahre lang hat Elvira als Psychologin gearbeitet, mit ihrer Rente kommt sie gut klar, auch weil sie nicht viel ausgibt, wie sie sagt. Vermutlich geht es Elvira besser als vielen anderen Rentnern in Italien, aber trotzdem steht sie exemplarisch für die Italiener der älteren Generation.

Ihre Töchter hätten es ziemlich schwer, erzählt sie, "auch weil sie recht fordernde Berufe haben. Eine ist Physikerin und die andere Ärztin. Sie sind beide sehr beansprucht. Sie schaffen es, aber ich helfe, wo ich kann - als Babysitter und auch anders."

Jeden Tag ein besonderes Essen für die Enkel

Mehr als die Hälfte der italienischen Großeltern hilft ihren Söhnen und Töchtern bei der Kinderbetreuung. Elvira selbst hat immer gearbeitet. Besonders nach der Scheidung war das nötig, denn sie musste ihre Familie durchbringen. Seit fast zehn Jahren ist die zierliche Frau mit den roten Haaren bereits in Rente. Jetzt hat sie die Zeit, ihren vier Enkeln zwischen fünf und zwölf Jahren das zu geben, was sie ihren eigenen Kindern damals nicht geben konnte.

"Die Enkel kommen jeden Tag zum Mittagessen zu mir", berichtet sie. Das sei ihr sehr wichtig, denn die Kinder würden sonst Pizza auf dem Nachhauseweg essen oder ungesundes Zeug zu Hause. "Ich erfinde jeden Tag besondere Gerichte, und sie lernen so, richtig zu essen." Das sei nicht nebensächlich, betont sie. "Mir sind einige Werte wichtiger geworden, die mir früher nicht so viel bedeuteten."

Italien ist mit inzwischen fast 17 Millionen Rentnern eine immer älter werdende Gesellschaft. Die Geburtenrate ist nur wenig höher als die in Deutschland. Auch weil es Familien schwer haben, gleichzeitig zu arbeiten und Kinder zu haben. Deshalb tragen die Großeltern, tragen Frauen wie Elvira die Last der Betreuung.

"Ein Gefühl der Wiedergeburt, des Risorgimento"

Und so sehr sie ihr Italien liebt wegen der Schönheit des Landes, so sehr leidet sie unter dem Vielen, das nicht funktioniert. Italien sei heruntergewirtschaftet, findet sie, und die Frage, wie das Land aus der Krise kommen soll, beunruhigt die Rentnerin: "Ich kann die Schäden nicht einschätzen. Ich weiß nicht, wie viele Jahre wir benötigen, um sie wieder gutzumachen. Es ist unsere letzte Chance, wieder anzufangen."

Auch in Italien wird das Versprechen ewigen Wachstums nicht mehr eingelöst. Die junge Generation, die gerade unter der Krise leidet, unter fehlenden Perspektiven und der Jugendarbeitslosigkeit ist auch hier die erste seit Jahrzehnten, der es nicht besser geht als ihren Eltern. Dennoch hat sich Elvira einen Rest Zuversicht bewahrt. Auch weil sie der Generation ihrer Kinder viel zutraut. Sie sei eher optimistisch, sagt sie. "Nicht weil Italien sich immer dumme Sachen ausgedacht hat, so auf die Berlusconi-Art." Sie denke, "dass die jungen Leute ein Gefühl der Wiedergeburt, des Risorgimento, erleben werden, ein starkes Gefühl. Das muss so sein, denn das Übel, die Oberflächlichkeit, die Dummheit haben sie in vollen Zügen ausgekostet. Das müsste aufgebraucht sein."

Antonio De Matteis: Arbeit aus Leidenschaft

In einer kleinen feinen Straße in der Mailänder Innenstadt hat das Modehaus Kiton seit Anfang des Jahres sein Geschäft, eher eine Repräsentanz. Selbst am Sonntag werden hier edle Anzüge und Hemden verkauft. Schwere, dunkle Limousinen fahren vor, die Kunden kommen aus aller Welt. Üblicherweise macht man einen Termin, wenn man hier einkaufen will. In aller Kürze stellt sich Antonio De Matteis vor, der Geschäftsführer. Kiton, das neapolitanische Unternehmen, produziere höchste Qualität, unterstreicht er.

Oben im zweiten Stock gibt es einen Verkaufsraum, groß wie eine Bahnhofshalle. An diesem Sonntag ist gerade wenig los. Das Ambiente von Luxus und Exklusivität hat viel Raum, um zu beeindrucken. Mittendrin der Unternehmenschef. Heute berät auch er die Kunden: "Ich bin im Showroom und nicht am Meer. Ich warte auf meine Kunden, finde heraus, was sie brauchen." Das machten alle Unternehmer so, das sei nichts Besonderes, sondern ganz normal, meint De Matteis. "Wir arbeiten aus Leidenschaft. Die Leidenschaft ist sehr wichtig."

De Matteis trägt - natürlich - einen eleganten Anzug mit gelber Krawatte. Er hat einen engen Zeitplan. Die Zeit für ein paar knappe Antworten nimmt er sich dennoch. Die Anzüge von Kiton zählen zu den teuersten der Welt, mit Preisen ab 5000 Euro aufwärts. Die Maßanzüge sind deutlich teurer. Hinten an einem Tisch werden gerade zwei Asiaten beraten, die offensichtlich einiges bestellen wollen. Darüber, wer die Kunden sind, gibt man keine Auskunft. Aber Mitglieder von Königshäusern gehören ebenso dazu wie Staats- und Regierungschefs.

"Made in Italy" funktioniert

Kiton macht 80 Prozent seines Umsatzes im Ausland. Die edle Kleidung geht unter anderem in den USA, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in London und Paris über den Ladentisch. "Made in Italy" funktioniert in diesem Segment, und deshalb hat die AG in den letzten Jahren noch mal expandiert, mit neuen Geschäften dort, wo das Geld ist. Gleichzeitig verweist Antonio auch auf die Wurzeln des Unternehmens. "Kiton konnte nur in Neapel entstehen", meint er. Neapel habe "eine alte Schneidertradition, eine große Handwerkstradition. Kiton wäre in einer anderen Stadt der Welt nicht möglich."

Während anderen italienischen Unternehmen regelmäßig vorgeworfen wird, sie würden nicht oder zu wenig investieren, hat Kiton in den vergangenen Jahren genau das Gegenteil getan. In Arzano, einem Vorort von Neapel, hat Kiton eine Schneiderschule gebaut. Das sei sicherlich das größte Investment gewesen, das Kiton in den vergangenen 15 Jahren machen konnte, sagt De Matteis. Dies sei sehr wichtig gewesen und habe "unsere Belegschaft und unsere Handwerkskunst deutlich verjüngt. Im Jahr 2000 betrug das Durchschnittsalter unser Arbeiter noch 55 Jahre, heute ist es 36 Jahre. Das war eine ungeheure Arbeit - und mit viel Stolz arbeiten wir weiter daran."

"Viele Menschen, die Lust haben zu arbeiten"

Neapel war lange die eleganteste Stadt Italiens. Mit einer reichen Oberschicht, die genug Zeit und Geld hatte, um zum Maßschneider zu gehen. 1956 wurde Kiton in Neapel gegründet, inzwischen sind in Italien 780 Arbeitsplätze entstanden. Etwa 20.000 Anzüge entstehen pro Jahr in Handarbeit. Ein Großteil der Stoffe wird in der firmeneigenen Weberei gefertigt. Alle Arbeitsschritte bis zum fertigen Anzug geschehen in Italien.

Die Produktion ins Ausland zu verlegen, käme für De Matteis nie infrage - trotz der schwierigen Bedingungen in seinem Land. "Wir haben großen Erfolg, obwohl wir in Italien sind." Italien habe "viele Menschen, die Lust haben zu arbeiten und die alles für ihre Unternehmen geben". Und dann gebe es aber noch einen kleinen Prozentsatz, schimpft Antonio, "der alles zerstört, was wir tagtäglich aufbauen. Es ist die Politik."

An der italienischen Politik lässt der Unternehmer kein gutes Haar. Italien müsste seine Werte besser verkaufen, müsste investieren in Kultur und Infrastruktur, damit die Unternehmen es leichter haben. Stattdessen hat De Matteis das Gefühl, die Politik lege denen Steine in den Weg, die etwas bewegen wollten. "Die Politiker sollten anfangen zu arbeiten", meint er. Das hätten sie "noch nie getan, bisher haben sie nur gestohlen. Sie sollten ins Ausland gehen und gucken, wie es die anderen machen." Beispielsweise könne Neapel von Barcelona lernen, glaubt er. "Man muss sich nur umgucken und tagtäglich arbeiten - so wie wir das machen."

Francesca De Santis: Selbstausbeutung ist keine Lösung

Das Teatro Valle ist das älteste bespielte Theater der italienischen Hauptstadt, in der Nähe des Pantheons und der Piazza Navona. Aber dass hier jeden Tag noch gespielt wird, verdankt dieses Haus einer radikalen Aktion vor drei Jahren: "Am 14. Juni 2011 ist eine Gruppe von Leuten hereingekommen", erzählt Francesca Romana De Santis. Das Theater sei eine Woche zuvor geschlossen worden. "Es war Sommerpause, es gab kein Programm für die nächste Saison. Man munkelte so einiges." Doch die Gruppe von Leuten, es waren Besetzer, meinten: Kultur sei lebensnotwendig wie Luft und Wasser.

Unter den ersten Besetzern waren junge und alte Theaterleute, die ein sterbendes Haus retten wollten. Francesca hat seitdem eine neue Berufung. Die junge Frau mit den schwarzen Locken ist von der Schauspielerin zur Aktivistin geworden - und im besetzten Teatro Valle so eine Art Mädchen für alles: "Ich kümmere mich um die künstlerischen Projekte, ich kontaktiere die Künstler, organisiere die Abende, ich mache alles. Ich kenne mich etwas aus mit der Bühnentechnik, kann beim Bühnenbild helfen. Aber ich bin keine Schauspielerin mehr. Das fehlt mir sehr."

Viel mehr Leben

Aber dafür ist in diesem Haus viel mehr Leben als in einem normalen staatlichen Theater. 200 Theatervorstellung gibt es im Jahr, jede Woche werden Filme gezeigt, es gibt Konzerte. Jeder zahlt so viel Eintritt, wie er kann. Gerade wird für die nächste Vorstellung geprobt, ein Musical einer ungarischen Künstlerin. Dazu kommen Schauspielkurse, Jugend- und Kindertheaterprojekte und vieles mehr.

In dem besetzen Haus ist eine blühende Oase entstanden - während an vielen anderen italienischen Theatern schon aus finanziellen Gründen langsam die Lichter ausgehen. "Im Laufe der Jahre wurde immer stärker gekürzt", sagt Francesca. "Die Gruppe, die mit der Besetzung des Theaters Valle angefangen hat, hieß '0.3'. Das war der Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts, der in die Kultur investiert wurde." Es sei der niedrigste in ganz Europa gewesen. "In Frankreich sind es drei Prozent. 0.3 ist also nichts. Und es gab immer mehr Kürzungen."

Besuch von Dario Fo

Dieser Entwicklung versucht das Teatro Valle etwas entgegenzusetzen. Das ist oft mühsam, das Geld ist immer noch knapp. Aber dieses Theater trifft einen Nerv: Wenn der Staat es nicht könne, dann müssten sie ihre eigenen Räume schaffen, sagen die Besetzer. Es sei ein System von Off-Bühnen entstanden, das sich selbst organisiere. "Seit wir das Theater besetzt haben, haben wir über 10.000 Vorschläge für Aufführungen bekommen", erzählt Francesca. "Das ist Wahnsinn, denn das heißt, dass alles kollabiert." Das sei sehr deprimierend. Andererseits bekommen sie auch ungeahnte Unterstützung: Dario Fo war vor kurzem hier, der Nobelpreisträger, und wollte für ein neues Theaterprojekt proben.

Die Stadt Rom ist chronisch pleite. Proberäume sind rar gesät. Francesca meint, dass der Staat gerade in Zeiten der Krise nicht an der Kultur sparen dürfe. Ein Theater, das hauptsächlich von der Selbstausbeutung seiner Besetzer lebe, dürfe eigentlich nicht sein. Der Staat müsste das finanzieren. "Kunst kann sich nicht allein finanzieren. Wir können eine Vorstellung nicht nur mit Kartenverkäufen bezahlen. Und es ist auch undenkbar, dass nur die Privatleute investieren, dass wir kommerziell werden und nicht mehr ausbilden können." Wenn der Staat an die Kunst glaube und investiere, sagt Francesca, "bedeutet es, dass die Kunst eine große Bedeutung für das Leben der Bürger hat".

Erfolgsgeschichten gehen nicht vom Staat aus

Und das ist vielleicht das Ermutigende: Dass in Italien einerseits zwar vieles im Argen liegt - in der Kultur, in der Politik, an den Universitäten, in den Familien und Unternehmen. Dass es aber andererseits in diesem Land voller Schätze und Ressourcen Menschen gibt, die sich ihre eigenen Räume schaffen. Italienische Erfolgsgeschichten gehen in diesen Zeiten auf jeden Fall meist nicht vom Staat aus.

Dieses Thema im Programm: Dieser Beitrag lief am 28. Juni 2014 um 18:05 Uhr auf BR2.