Interview

Wahl der Knesset "Israelis haben genug von der Politik der Angst"

Stand: 23.01.2013 16:36 Uhr

Die Israelis haben ihrem Premier einen Denkzettel verpasst. Der Kolumnist Carlo Strenger meint, viele Israelis hätten genug von Netanjahus Angst-Politik. Der Premier habe ein apokalyptisches Weltbild, betont Strenger gegenüber tagesschau.de. Dies habe mit dem bunten und offenen Israel wenig zu tun.

tagesschau.de: Warum hat Netanjahu an Zustimmung verloren?

Carlo Strenger: Die Israelis beginnen zu begreifen, dass seine Politik mit den großen politischen Problemen des Landes nichts zu tun hat. Netanjahu hat zudem einfach nicht erkannt, dass die sozialen Proteste im Jahr 2011 etwas grundsätzlich verändert haben. Vor allem die Mittelklasse hat genug davon, ausgenutzt zu werden. Die Kombination aus diesen Faktoren war entscheidend.

Zur Person

Carlo Strenger ist Psychologe, Philosoph und politischer Kolumnist. Er schreibt unter anderem für den "Guardian", die "Haaretz" und die "New York Times". Strenger veröffentlichte mehrere Bücher. Er ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen, heute lebt er in Israel, wo er als liberaler Intellektueller die Politik analysiert.

tagesschau.de: Die sozialen Proteste waren eigentlich groß genug, um deren Bedeutung zu erkennen. Hat es ideologische Gründe, dass Netanjahu dies verkannte?

Strenger: Netanjahus Taktik war seit Jahren, den politischen Diskurs von sozialen Fragen abzulenken auf Sicherheitsfragen. Er war zudem abgeschottet von der Wirklichkeit. Netanjahu hat ein sehr apokalyptisches Weltbild. Zudem ist er offenbar sehr davon überzeugt zu wissen, was richtig ist. Netanjahu ist ein düsterer Mensch, der eine düstere Lebens- und Weltanschauung hat. Sein politisches Hauptmittel war immer wieder die Angst und die Furcht: vor dem Iran, vor dem Terror.  

tagesschau.de: Was zeichnet den beliebten Spitzenkandidaten Jair Lapid von der Zukunftspartei aus?

Strenger: Lapid ist ein bisschen wie Obama, sein Motto lautet: Wir müssen verändern. Lapid ist ein Politiker einer neuen Sorte. Er hat enorm viel über soziale Medien gearbeitet und ist sehr hellhörig, was das israelische Publikum anbelangt. Er hat die sozialen Themen immer wieder auf sehr gescheite und ausgewogene Weise aufgegriffen. Das Resultat der Wahl zeigt, dass die israelischen Bürger eine Politik erwarten, die zuhört.

tagesschau.de: Das klingt nach einer richtungsweisenden Entscheidung. Tel Aviv beispielsweise steht für ein buntes, lautes, tolerantes Miteinander, und nicht für eine Gesellschaft, die vor Furcht in Schockstarre verharrt. Welches Bild von Israel ist aus Ihrer Sicht das treffender?

Strenger: Die meisten Menschen, die das erste Mal nach Israel kommen, erwarten dort einen düsteren Polizeistaat. Dabei ist Israel, vor allem im Zentrum um Tel Aviv, ein sehr lebensfrohes Land, sehr kreativ, sehr offen. Und Lapid ist ein Politiker, der vom Charakter, von der Weltanschauung, vom Stil vielmehr diesem Israel entspricht als die alten Politiker. In der neuen Knesset werden fast neue 60 Parlamentarier sitzen. Die Hälfte des Parlaments wurde ausgewechselt. Die Israelis haben von den alten Gesichtern, von der Politik alten Stils, genug.

tagesschau.de: Welche Chancen gibt es mittelfristig für eine Koalition eines Zentrum-Links-Blocks? Welche Differenzen gibt es dort?

Strenger: Da gibt es keine sehr schwerwiegenden ideologischen Differenzen. Leider haben sie dennoch keine gemeinsame Strategie entwickelt, um die Politik stärker zu beeinflussen. Netanjahu wird wieder Premier, aber er hat ein großes Problem: Sein Likud ist in großen Teilen wirklich rechts, viel rechter als Netanjahu selbst. Daher wird er große Schwierigkeiten haben, eine Koalition aufzubauen, die zentristisch orientiert ist - und nicht rechts. Zudem hat Netanjahu nicht nur eine sehr düstere Weltanschauung, sondern er scheut auch große Wagnisse. Doch es ist ein großes politisches Wagnis, sich nunmehr mit dem Zentrum zu verbinden und die rechten Koalitionspartner beiseite zu lassen. Er wird versuchen, ein Gemisch zusammenzubringen, doch dieses dürfte kaum funktionsfähig sein.

tagesschau.de: Warum ist der rechte Hoffnungsträger Nafali Bennett von "Unser Haus Israel" bei den Siedlern so populär? Warum gewinnt er dazu, während Netanjahu verliert?

Strenger: Netanjahu laviert sich ständig durch, sagt nie klar, was er will. Nach außen sagt er, er wolle zwei Staaten, doch nach innen verkündet er: Ich baue weitere Siedlungen. Niemand weiß genau, was er eigentlich denkt. Die Siedler haben aber ganz klare Interessen, sie sind gegen die Zwei-Staaten-Lösung. Und diese Gruppe hat mit Bennett eine neue, sehr attraktive Führungsfigur gefunden. Bennett sieht nicht aus wie ein klassischer Siedler, die sehr unmodern wirken, sondern ist ein erfolgreicher Hightech-Unternehmer. Bennett hat die extremistische Ideologie der Siedler auf moderne und nette Art verpackt. Aus deren Sicht hat er ganz hervorragende Arbeit geleistet. Nun gibt er sich offen und sagt, er sei bereit, mit allen in einer Koalition zu arbeiten. Die Frage ist nur, wie eine solche Koalition funktionieren soll.

tagesschau.de: In Deutschland wird seit Jahren darüber diskutiert, ob es wohl auch schwarz-grüne Koalitionen geben könnte, in Israel sind diverse Koalitionen normal. Welche Vor- und Nachteile hat das in der Praxis und der politischen Kultur?

Strenger: Ich bin sehr für das Bunte. Das größte kreative Potenzial konzentriert sich in Israel im säkular-liberalen Lager. Das ist auch die Gruppe, die Israel wirtschaftlich und innovativ nach vorne bringt. Doch es kommt eine Grenze, an der Buntheit zu Zersplitterung wird. Die israelische Politik spiegelt die Gesellschaft wider. Israel ist ein Einwanderungsland, es sind sehr viele ethnische Gruppen vertreten, sehr viele verschiedene Kulturen. Es gibt den Konflikt zwischen säkularen und religiösen Juden, die Spannungen zwischen jüdischen und arabischen Bürgern. Dementsprechend sieht eben auch die Parteienlandschaft chaotisch aus.

tagesschau.de: In der Knesset sind dementsprechend zahlreiche Parteien vertreten, auch arabische. Sie verfügen über ungefähr ein Dutzend Sitze. Welche Rolle spielen diese Parteien?

Strenger: Es ist paradox, dass die arabischen Parteien in Israel außerhalb des politischen Spiels sind. Sie treten in keine Koalitionen ein und sind oft viel zu oft damit beschäftigt, palästinensische Identität zu definieren. Sie nehmen sich dadurch nicht genug der wirklichen Bedürfnisse und Probleme der palästinensischen Bürger in Israel an. Dabei sind diese Bedürfnisse ganz akut, besonders in wirtschaftlicher Hinsicht. Leider haben die arabischen Parteien in Israel keinen gemeinsamen Nenner, um an der Politik konstruktiver teilzunehmen.

tagesschau.de: In den vergangenen Monaten wurde in deutschsprachigen Medien ausführlich über die geplanten Siedlungen berichtet, die Innenpolitik Israels spielt sonst kaum eine Rolle. Ist die Wahrnehmung Israels verengt auf den Siedlungsbau?

Strenger: Ja, das ist nicht nur im deutschen Sprachbereich so. Israel wird generell viel zu oft ausschließlich unter dem Konflikt mit den Palästinensern beleuchtet. Das ist irreführend. Ich habe eine klare Position bei diesem Thema, ich unterstütze eine Zwei-Staaten-Lösung. Aber Israel hat eben auch sehr viele andere Facetten. Vielleicht führen die Wahlen dazu, dass das öffentliche Interesse an diesem sehr bunten, faszinierenden und komplexen Land differenzierter wird.

Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de