Ein kurdischer Kämpfer geht an einer Wand mit IS-Flagge vorbei.
Hintergrund

IS-Rückkehrer Aussitzen, abwarten, prüfen

Stand: 14.04.2019 04:20 Uhr

In der Debatte über den Umgang mit IS-Anhängern herrscht seltene Einigkeit. Kaum ein Land will die Kämpfer zurück - eine Strategie gibt es offenbar nicht. Ein Überblick.

Von Mit Informationen von Marcel Wagner, ARD-Studio Paris, Udo Schmidt und Thomas Spickhofen, ARD-Studio London

Es sollte eine Reise ohne Wiederkehr sein: Hunderte machten sich in den vergangenen Jahren aus Europa über die Türkei auf den Weg in den "Islamischen Staat" (IS): Mancher verbrannte dabei seinen französischen, belgischen oder deutschen Reisepass. Jetzt, wo der IS zumindest territorial fast besiegt ist, und viele der Kämpfer in Gefängnissen der Kurden einsitzen, stellt sich die Frage: Wie gehen die europäischen Staaten mit den Dschihadisten um? Denn auch wenn sie ihre Pässe verbrannten - ihre Staatsbürgerschaft haben sie nie verloren.

"Problem vom Hals geschafft"

"Kein Staat will diese IS-Kämpfer haben", sagt der Nahostexperte Guido Steinberg von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit tagesschau.de. "Die meisten europäischen Staaten haben bisher versucht, das Problem auszusitzen." Das rächt sich jetzt. Der Tweet von US-Präsident Donald Trump, der Europa an die Rücknahme der IS-Kämpfer erinnerte, setze Europa unter Druck, so Steinberg.

Verständnis hat der Nahostexperte dafür wenig: "Die Kurden und die USA haben uns ein drastisches sicherheitspolitisches Problem vom Hals geschafft", sagt Steinberg, die Ablehnung von gerade 60 Deutschen sei absolut unverständlich. "Das ist kein Verhalten gegenüber eines wichtigen Verbündeten."

Doch Deutschland ist damit nicht allein:

Großbritannien - Härte mit Fragezeichen

In der Frage der Rückkehr von IS-Kämpfern zeigte sich Großbritannien zuletzt unnachgiebig. "Wer unserem Land hasserfüllt den Rücken gekehrt und Terrororganisationen im Ausland unterstützte, hat kein Recht auf Rückkehr", sagte Großbritanniens Innenminister Sajid Javid im Unterhaus. Gemeint war die 19-jährige Shamima Begum - der Fall bestimmt seit Wochen die Debatte über IS-Rückkehrer in Großbritannien.

Die britische IS-Anhängerin reiste im Alter von 15 Jahren nach Syrien aus. Zwei ihrer Kinder starben offenbar an Unterernährung und Krankheit, ein drittes brachte sie vor Kurzem in einem Flüchtlingslager in Nordsyrien zur Welt. Jetzt bittet sie darum, nach Großbritannien zurückgeholt zu werden - auch wenn Begum keinerlei Reue zeigt.

Shamima Begum

Ein Bild der Überwachungskamera zeigt Begum bei ihrer Ausreise im Jahr 2015 - jetzt wird über ihre Rückkehr diskutiert.

Innenminister Javid will "alles in seiner Macht stehende" unternehmen, um die Rückkehr der jungen Frau zu verhindern. So soll der Britin die Staatsbürgerschaft entzogen werden - ohne dass sie staatenlos bleibt. Gelingen könnte das mithilfe eines juristischen Kniffs. Das Innenministerium geht davon aus, dass die 19-Jährige auch Anspruch auf die Staatsbürgerschaft Bangladeschs haben könnte. "Wenn ihre Mutter aus Bangladesch ist, dann kann Begum nach dortigem Recht die Staatsbürgerschaft von Bangladesch erwerben", sagt etwa der britische Rechts- und Terrorexperte Lord Carlile dem ARD-Studio London. Rechtlich ist dies jedoch fragwürdig - und Bangladesch hat bereits deutlich gemacht, dass die Regierung in Dhaka dies ohnehin ablehnt.

Belgien - von Fall zu Fall

Auch aus der belgischen Dschihadisten-Szene sind viele Anhänger in die Kriegszone gereist. Von den mehr als 400 belgischen Dschihad-Reisenden wurden Ende 2018 noch 150 im Irak und Syrien vermutet. Hinzu kommen etwa 160 Kinder und Jugendliche, die belgische Staatsbürger sind. Die Regierung in Brüssel will Kinder unter zehn Jahren zurückholen, wenn eine belgische Abstammung klar belegt ist. Sonst will sie "von Fall zu Fall" entscheiden.

Frankreichs Ex-Präsident Hollande spricht bei einer Rede

Gescheiterte Initiative: Ex-Präsident Hollande wollte Doppelstaatsbürgern die französische Staatsbürgerschaft entziehen.

Frankreich - Paris will IS-Anhänger aufnehmen

Aus kaum einem europäischen Land sind so viele IS-Kämpfer nach Syrien und in den Irak gereist wie aus Frankreich. Mehr als 300 französische Dschihadisten wurden in den vergangenen Jahren getötet, etwa 250 Kämpfer und ihre Angehörigen sollen in Syrien auf freiem Fuß sein, so die Nachrichtenagentur AFP.

Die Debatte ist dort nicht neu. Nach den Anschlägen in Paris im Jahr 2015 - an denen sich französische IS-Kämpfer beteiligt hatten - kündigte der damalige Präsident François Hollande ein hartes Vorgehen an. So sollte ausländischen Kämpfern mit mehreren Staatsbürgerschaften die französische Staatsbürgerschaft entzogen werden. Umgesetzt wurden die Pläne nicht. Eine Rücknahme von in Syrien oder im Irak gefangenen Mitgliedern der Terrororganisation schien lange Zeit unwahrscheinlich.

Mit dem angekündigten Rückzug der USA aus Syrien änderte sich offenbar die Einschätzung. Im Januar berichteten mehrere Medien, dass Frankreich sich bereit erklärt haben soll, 130 IS-Angehörige einreisen zu lassen. Begründet wurde dies mit der Sorge, dass in der Region freigelassene IS-Kämpfer zur Gefahr für Frankreich würden. Selbst über den Transport wollte man sich bereits verständigt haben - der könne von den USA organisiert werden, hieß es damals. Doch rechtliche Details bleiben weiterhin unklar.

USA - Viele wieder aufgenommen

Erst mit Trumps Tweet hat die Debatte in Europa Fahrt aufgenommen. Doch ausgerechnet die USA müssen sich derzeit selbst intensiv mit einer IS-Anhängerin beschäftigen. Die in den USA geborenen Hoda Muthana hatte sich vor vier Jahren in Syrien dem IS angeschlossen und will nun wieder in die USA zurückkehren - auch wenn sie dort ein Verfahren erwartet.

Der Fall ist allerdings umstritten. So zweifelt die US-Regierung an, dass Muthana US-Bürgerin ist. Ihr Vater könnte zum Zeitpunkt ihrer Geburt als Diplomat in den USA gelebt haben. Kinder ausländischer Diplomaten werden aber nicht automatisch durch die Geburt in den USA auch amerikanische Staatsbürger.

Hoda Muthana

Fall Hoda Muthana: Die ehemalige IS-Anhängerin will zurück in die USA.

In einem Eilantrag vor dem Bezirksgericht in Washington forderte ihr Vater nun, dass die US-Staatsbürgerschaft seiner Tochter anerkannt wird und sie mit ihrem kleinen Sohn in die USA zurückkehren darf.

Laut "New York Times" wurden von 59 US-Amerikanern, die sich dem IS in Syrien angeschlossen hatten, nahezu alle Festgenommen auch wieder zurückgenommen. Mit Ausnahme von mindestens 13 Frauen und Kinder, schreibt die Zeitung.

Saudi-Arabien, Tunesien und Marokko - Rückkehrern droht Prozess

Experten schätzen, dass bis zu 5000 Tunesier für den IS im Irak, Syrien und Libyen kämpften. Laut Tunesiens Präsident Béji Caid Essebsi droht Rückkehrern ein Prozess und eine Haftstrafe. In der tunesischen Bevölkerung gelte die Rücknahme der IS-Dschihadisten als sehr umstritten, sagt Nahostexperte Steinberg. Allerdings sei es unwahrscheinlich, dass das kleine Land dem Druck der USA in der Frage standhalten könne.

Auch mehr als 1500 Marokkaner sollen sich dem IS angeschlossen haben. In Marokko werden Dschihad-Rückkehrer zu Haftstrafen von bis zu 15 Jahren verurteilt. Seit Mitte 2018 wurde laut AFP mehr als 200 Rückkehrern der Prozess gemacht.

Ähnliche viele ausländische Kämpfer stammen, laut Steinberg, aus Saudi-Arabien. Doch auch Saudi-Arabien werde sich seinem Verbündeten USA kaum widersetzen, vermutet der Nahost-Experte.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. Februar 2019 um 12:11 Uhr.