Interview

Experte Meyer zum Aufbau eines neuen libyschen Staates "Das wird eine gigantische Aufgabe"

Stand: 24.08.2011 19:15 Uhr

Die libyschen Aufständischen vereint ein Ziel: der Sturz von Machthaber Gaddafi. Ansonsten halte die zersplitterten Gruppen wenig zusammen, sagt Libyen-Experte Meyer im Interview mit tagesschau.de. Er warnt zugleich davor, Gaddafis Anhänger beim Aufbau eines neuen Staates auszuschließen.

tagesschau.de: Die Herrschaft von Libyens Machthaber Muammar al Gaddafi neigt sich dem Ende zu. Hat der Nationale Übergangsrat, der Neuwahlen binnen acht Monaten erreichen will, überhaupt landesweit die nötige Unterstützung?

Günter Meyer: Der Nationale Übergangsrat ist komplett zersplittert - und das ist eines der zentralen Probleme. Radikale Islamisten, Sozialisten, Liberale und Auslands-Libyer, die aus dem Exil zurückgekehrt sind, sitzen alle an einem Tisch - mit jeweils unterschiedlichen Zielen. Außerdem sitzen in führenden Positionen Mitglieder der ehemaligen Gaddafi-Regierung. Die Interessen von langjährigen Oppositionellen und denjenigen, die sich erst kürzlich von Gaddafi losgesagt haben, zusammenzubringen - das wird ein gigantische Aufgabe.

Wenn Ägypten nach dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak bereits enorme Probleme hat, freie Wahlen durchzusetzen, dann wird es für Libyen, wo fast alle zivilgesellschaftlichen Institutionen fehlen, weitaus schwieriger, stabile Strukturen zu schaffen. Alles, was die Rebellen bisher zusammenhält, ist der gemeinsame Widerstand gegen Gaddafi.

Zur Person

Günter Meyer ist Professor am Geographischen Institut der Universität Mainz. Dort leitet er das Zentrum für Forschung zur Arabischen Welt. Zugleich ist er Vorsitzender der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient. Sein Schwerpunkt ist die politische Geografie der arabischen Welt.

tagesschau.de: Bröckelt die Anti-Gaddafi-Allianz bereits?

Meyer: Es gibt zumindest erste Anzeichen. Die Ermordung des Militärchefs der Rebellen, Abdel Fattah Junis, Ende Juli war ein klares Zeichen für die Zerstrittenheit der Rebellen, denn Junis soll von einer Gruppe der Aufständischen ermordet worden sein. Er war höchst umstritten, weil er noch vor dem Überlaufen Innenminister unter Gaddafi war. Hinzu kommt: Der gesamte militärische Widerstand hat keine klaren Befehlsstrukturen. Er setzt sich aus einer Vielzahl kleiner Gruppen zusammen, die alle ihren eigenen Kommandeur haben. Die Rebellen sind zwar gemeinsam gegen Gaddafi vorgeprescht, mehr verbindet sie aber nicht.

Hinzukommt, dass der schnelle Vormarsch auf Tripolis vor allem Truppen aus dem westlichen Bergland gelang. Sie sind Berber und Araber und widersetzten sich den Angriffen der Gaddafi-Truppen. Jetzt fühlen sich als Sieger - und nun sollen sie sich dem Übergangsrat aus dem Osten unterstellen. Da zeichnen sich also bereits erste Konflikte ab.

tagesschau.de: Die Zerstrittenheit innerhalb der Rebellen ist ein Problem, ein weiteres ist der Umgang mit Gaddafis Anhängern, die in einem neuen Staat auch ihren Platz beanspruchen. Der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats, Abdul Dschalil, hat gemäßigte Töne angeschlagen. Wird er sich am Ende durchsetzen?

Meyer: Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollkommen offen. Voraussetzung wäre, dass es nach Ende der Kämpfe keine weitere Vergeltung gibt. Dass Abdul Dschalil bereits am Sonntag seine Anhänger darauf hingewiesen hat, dass Racheaktionen für das neue Libyen der falsche Weg wären, ist vernünftig. Aber bis zu einem funktionierenden Staat ist es noch ein langer Prozess. Ganz entscheidend wird sein, wie die verschiedenen Positionen sich am Ende in einer Verfassung niederschlagen.

tagesschau.de: Im Irak hat es nach dem Sturz Saddam Husseins Jahre gedauert, bis annähernd stabile Verhältnisse erreicht wurden. Befürchten Sie jetzt in Libyen eine ähnliche Entwicklung?

Meyer: Nicht unbedingt. Im Irak wurde der gravierende Fehler begangen, dass die Armee nach dem Sturz Saddam Husseins vollkommen aufgelöst wurde. Die Offiziere wurden unter den neuen Herrschern nicht wieder eingestellt. Gerade diese arbeitslosen Offiziere waren es, die sich vor allem den Milizen und Al-Kaida-Terroristen anschlossen. Mit anderen Worten: Die Auflösung der Armee hat maßgeblich dazu beigetragen, dass der Irak unter blutigen Terroranschlägen zu leiden hatte. 

tagesschau.de: Welche Konsequenz müsste Libyen daraus ziehen?

Meyer: Man sollte nicht die Position beziehen, wonach alle, die Gaddafi einst gedient haben, in Zukunft keine Ämter mehr übernehmen dürfen. Wenn das passiert, müssen wir damit rechnen, dass Al Kaida in Libyen ideale Rekrutierungsmöglichkeiten für Terroristen bekäme. Die Einbindung der Gaddafi-Anhänger ist eines der gravierenden Probleme - und der zentrale Punkt bei der Gestaltung eines neuen libyschen Staates.

Keine Frage: Einige führende Leute, die sich gravierender Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, müssen vor Gericht gestellt werden. Aber die Offiziere der unteren Ränge müssten ihre Posten behalten, um nicht weitere Konflikte auszulösen.

tagesschau.de: Noch fliegt die NATO Angriffe auf Libyen. Wenn das Land vollständig in Rebellenhand ist, wird sie sich dann komplett zurückziehen - oder ähnlich wie in Afghanistan mit Bodentruppen einrücken?

Meyer: Das halte ich für ausgeschlossen. In dem Augenblick, in dem der Widerstand der Gaddafi-loyalen Truppen beendet ist, endet der Auftrag der NATO. Bodentruppen würden international ohnehin keine Zustimmung finden, denn eine neue UN-Resolution, die Bodentruppen erlaubt, ist angesichts der Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates ausgeschlossen.

tagesschau.de: Neben der politischen Dimension gibt es beim Wiederaufbau noch die wirtschaftliche Seite. Immer wieder ist davon die Rede, dass die eingefrorenen Gaddafi-Milliarden dafür eingesetzt werden. Halten Sie das für sinnvoll?  

Meyer: Der größte Teil des libyschen Auslandskapitals befindet sich nicht auf Bankkonten, sondern ist beispielsweise in Form von Aktien international agierender Wirtschaftsunternehmen oder in Immobilien angelegt. Das heißt: Einerseits sind die Gelder gar nicht so schnell flüssig zu machen.

Auf der anderen Seite wäre es ökonomisch unsinnig, in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation die Anteile zu verkaufen, um an das Geld heranzukommen. Denn diese sind teilweise hochverzinst - und durch den Verkauf der Anteile hätten die neuen Machthaber zwar kurzfristig Kapital, langfristig würden sie aber Verluste machen. Viel wichtiger ist, dass Libyen von der internationalen Gemeinschaft jetzt Hilfskredite bekommt - und zwar so lange, bis das Land wieder durch die Öleinnahmen Gewinne macht. Dann könnten die Kredite auch schnell wieder zurückgezahlt werden.

tagesschau.de: Aber wird sich an der Verteilung der Gewinne aus der Ölwirtschaft nicht der nächste Konflikt innerhalb des Staates entzünden?    

Meyer: Das wird sicherlich zu erheblichen Auseinandersetzungen führen. Allerdings haben die Aufständischen bereits angekündigt, alle bestehenden Verträge des Ölgeschäfts nicht anzutasten. Das ist aus libyscher Sicht verständlich. Die jüngsten Verträge sehen vor, dass nur 7,8 Prozent der Erdölförderung an die Konzerne gehen - der weitaus größte Teil fließt an den libyschen Staat. Das sind im Grunde optimale Bedingungen.

Würde die Regierung davon abweichen, wäre das töricht. Viele Erdölgesellschaften hatten sich das gewünscht, um für sich günstigere Konditionen zu bekommen, aber das wird die neue Regierung - wie auch immer sie am Ende zusammengesetzt ist - nicht mitmachen.

Das Interview führte Jörn Unsöld, tagesschau.de