Interview

ARD-Haiti-Korrespondent im Interview "Die Menschen sind völlig perspektivlos"

Stand: 20.01.2010 21:42 Uhr

Das starke Nachbeben in Haiti hat weitere Opfer gefordert und die Angst der verzweifelten Menschen weiter verstärkt - Angst vor noch mehr Zerstörung und Angst vor der Zukunft. Inzwischen kommt die internationale Hilfe zwar an, berichtet Michael Castritius im Gespräch mit tagesschau.de. Doch wie es weiter geht, weiß niemand.

tagesschau.de: Wie haben Sie das Nachbeben in Port-au-Prince erlebt?

Michael Castritius: Ich habe fest geschlafen um die Zeit - es war ja kurz nach 6.00 Uhr Ortszeit. Dann fing das Bett an zu wackeln. Davon wurde ich wach. Im ersten Moment wusste ich gar nicht, was los ist. Als mir klar wurde, dass dies ein weiteres Erdbeben ist, fing mein Herz an zu rasen. Ich bin aufgesprungen, und blöderweise - ich weiß gar nicht warum - zum Fenster gerannt statt zur Tür. Ich wollte schauen, was draußen los ist. In dem Moment hörte es dann auch schon wieder auf.

Das war das Glück bei diesem Beben: Es war zwar sehr stark mit 6,1, aber eben nur sehr kurz. Dadurch sind offenbar auch die Schäden nicht so groß wie befürchtet. Ich bin dann rausgegangen in den Flur. Dort stand auch schon Michael Kühn von der Welthungerhilfe, bei dem ich zurzeit wohne. Auch er hatte Herzpochen, sagte aber nur: "Jetzt langsam reicht es aber. Es genügt, ich habe die Schnauze voll."

Die Hilfe kommt bei den Menschen an

tagesschau.de: Sie sind seit ein paar Tagen in Port-au-Prince. Hat sich die Lage seitdem verbessert?

Castritius: Ja. Ich bin seit Freitag hier und in diesen Tagen hat sich die Lage tatsächlich dramatisch verbessert - vor allem die Infrastruktur. Telefone funktionieren wieder und die wichtigsten Straßen sind wieder befahrbar. Dadurch kommt auch die Hilfe etwas besser an. Es ist natürlich immer noch viel zu wenig, aber bei schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen, die versorgt werden müssen, geht das logistisch auch nicht von einem auf den anderen Tag.

tagesschau.de: Ist die Hilfe sichtbar? Auf den Straßen beispielsweise?

Castritius: Man sieht jeden Tag mehr Hilfsstationen an den Plätzen und an den Straßen, wo die Menschen jetzt campieren. Man sieht immer öfter, dass dort Lebensmittel, Decken und Wasser verteilt werden. Ja, es gibt Fortschritte, wenn auch noch viel zu langsam. Aber das liegt nicht an den Hilfsorganisationen und schon gar nicht an der Spendenbereitschaft in Deutschland. Das sind einfach logistische Probleme.

Plünderungen und Gewalt sind die Ausnahme

tagesschau.de: Wie reagieren die Menschen auf die Hilfe?  

Castritius: Unglaublich geduldig. Mit viel Ruhe stellen sie sich in den Schlangen an.

tagesschau.de: Es gibt Berichte über Plünderungen und Gewalt...

Castritius: Die gibt es auch - in Einzelfällen. Die Bilder von Plünderungen spiegeln aber nicht die Gesamtsituation wider. Insgesamt prägt sich das Bild einer unglaublichen Ruhe, Geduld und Disziplin an den Verteilstellen ein. Die Menschen reagieren dankbar - gerade Wasser ist sehr sehr knapp und überlebenswichtig.

tagesschau.de: Sie sind als Journalist in Haiti. Wie reagieren die Menschen auf Sie? Fühlen sich die Menschen gestört?

Castritius: Nein. Sie sind zugänglich, sie sprechen mit mir. Sie schütten ihr Herz aus - in das Mikrofon. Oft verwechseln sie mich aber mit einem Helfer. Das tut weh, denn sie denken, dass da einer aus Deutschland ist, der etwas zu essen oder ein paar Gourdes (haitianische Währung) für sie hat. Das macht es oft sehr sehr schwer, mit den Menschen zu reden.

Die Menschen reden sich die Trauer vom Herzen

tagesschau.de: Was machen Sie dann?

Castritius: Sobald ihnen klar ist, dass ich Journalist bin, versuche ich ihnen zu erklären, dass meine Berichte die Hilfe ankurbeln können. Das heißt, je mehr ich berichte und ihre Situation darstelle, desto mehr Menschen spenden. Und ich erzähle ihnen von der hohen Spendenbereitschaft in Deutschland. Dann sind sie sehr zugänglich und reden sich die Trauer, die Verzweiflung und die Perspektivlosigkeit sozusagen vom Herzen.

tagesschau.de: Was denken die Menschen über ihre Zukunft? Haben sie überhaupt noch Hoffnung - angesichts des Elends?

Castritius: Die Sorge um die Zukunft ist riesig. Die Menschen fragen sich, wie es weiter geht. Sie haben keine Häuser mehr, die Kinder können nicht mehr zur Schule gehen, die Schulen sind fast alle kaputt, sie haben keine Arbeit. Die meisten hatten ja schon vor dem Beben keine, aber da konnten sie sich wenigstens auf dem informellen Sektor ein paar Gourdes beschaffen. Diese Einkommensquellen sind jetzt völlig weg. Es kommt kein Geld mehr rein.

tagesschau.de: Die Zukunftsangst wird also immer größer?

Castritius: Zum einen nimmt die Zukunftsangst zu und dann natürlich die Angst vor weiteren Erdebeben und weiteren Zerstörungen. Die Menschen sind völlig perspektivlos. Das macht allen zu schaffen. Vor allem Familienvätern und Müttern, die kleine Kinder haben und nicht wissen, wie es weitergehen soll. Sie wissen ja auch, dass jetzt zwar die akute Nothilfe anläuft. Aber was ist, wenn die Nothilfe wieder beendet wird? Stehen wir dann alleine da, in noch größerem Elend als vor dem Erdbeben?

Haiti braucht Hilfe - langfristig

tagesschau.de: Wie geht es mit Haiti weiter? Kommt das Land langfristig ohne massive internationale Hilfe aus?

Castritius: Allein kommt das Land mit Sicherheit nicht wieder auf die Füße. Haiti lag ja schon vor der Katastrophe ökonomisch und ökologisch am Boden. 80 Prozent der Menschen leben in absoluter Armut. Und jetzt ist auch noch die Regierung völlig zerstört - im wahrsten Sinne des Wortes. Die Ministerien, die ganze Infrastruktur. Wenn man das Land nach dieser Nothilfephase allein lassen würde, würde es völlig im Elend versinken. Dann gäbe es Hungertote und irgendwann Hungerunruhen.

tagesschau.de: Was könnte eine Lösung sein?

Castritius: Die Gedanken gehen immer mehr in Richtung eines Protektorats - also dass beispielsweise die Vereinten Nationen auch Regierungsfunktionen übernehmen. Und international muss man überlegen, wie das Land aufgebaut werden kann. Nicht nur im Sinne von Häuserbau. Das Land braucht eine Struktur, Einnahmequellen für die Menschen, Schulen, Bildung für die Kinder. Damit in 20 oder 30 Jahren aus den heutigen Kindern ausgebildete Kräfte werden, die dann auch irgendwann selber das Land in die Hand nehmen können und ein stabiles Land daraus bauen können.

Das geht überall in Lateinamerika, nur Haiti war bislang immer schon die schwelende Wunde - ein Elendspfuhl mitten in Amerika. Vielleicht liegt da die Chance: In dieser Krise endlich mal von Grund auf anzupacken. Eine Art Marshallplan hat der Chef des IWF ja schon empfohlen. Ich denke, das ist notwendig für Haiti.

tagesschau.de: Gibt es denn international ein Interesse, Haiti langfristig zu helfen? Aus strategischen Gründen zum Beispiel?

Castritius: Das ist zu hoffen. Die massive Intervention der USA jetzt im Moment hier in Haiti deutet darauf hin, dass man dieses Problem endgültig lösen will und nicht immer nur von Katastrophe zu Katastrophe denkt. Es ist ja nicht die erste Katastrophe hier: Wir hatten 2008 vier Hurrikans, die eine riesige Zerstörung angerichtet haben. Wir hatten ein paar Monate vorher die Hungerrevolten, als die Preise so angestiegen waren. Immer wenn Katastrophen passierten, kam Hilfe, doch danach war es schnell wieder vorbei mit der Hilfe. Ich hoffe, dass man daraus gelernt hat. Da müssen die USA dabei sein, da müssen die Vereinten Nationen dabei sein. Sonst ist das nicht zu stemmen.

Das Interview führte Fabian Grabowsky, tagesschau.de

Das Interview führte Michael Castritius, rbb