Interview mit Türkei-Expertin Was den türkischen Premier wirklich antreibt

Stand: 10.06.2013 21:22 Uhr

Fast zehn Jahre lang schaffte der türkische Ministerpräsident Erdogan den Spagat zwischen religiösen Werten und moderner Demokratie. Das ist nun vorbei, sagt die Journalistin Ayca Tolun im Gespräch mit tagesschau.de: "Erdogan lässt sich von seiner eigenen Agenda leiten".

tagesschau.de: Aus Sicht vieler europäischer Länder war Erdogan lange auch ein Hoffnungsträger des modernen Islam: Fast zehn Jahre lang hat in der Türkei der Spagat funktioniert, sich politisch sowohl an religiösen Elementen zu orientieren, aber auch ein moderner, demokratischer Staat zu sein. Hat sich die Türkei in den vergangenen Jahren verändert?

Ayca Tolun: Vor allem hat sich Erdogan verändert. Er galt zwar schon immer als ein schwieriger Charakter, der persönlich überhaupt keinen Widerspruch duldet. Seine Partei ist deshalb auch eine Ein-Personen-Partei, eine Erdogan-Partei. Aber seit den letzten Wahlen hat sich sein Regierungsstil verändert, was seine Gegner massiv kritisieren.

Zur Person

Ayca Tolun ist Leiterin der Türkischen Redaktion bei der Hörfunkwelle Funkhaus Europa im WDR. Sie ist Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters. Sie ist geboren in Deutschland, aufgewachsen in der Türkei und zum Studium wieder nach Deutschland gekommen. Seitdem lebt sie hier.

tagesschau.de: Was hat sich denn konkret verändert?

Tolun: Beispielsweise äußert er sich seit etwa einem Jahr bei jeder Gelegenheit zur türkischen Demografie. Türkische Frauen sollten mindestens drei Kinder bekommen, er wettert massiv gegen Abtreibung. Vor Beginn der Proteste stand die Regierung kurz davor, das Abtreibungsrecht massiv einzuschränken - obwohl die Türkei eigentlich ein liberaleres Abtreibungsrecht hat als beispielsweise Deutschland.

Erdogan hat den Verkauf von Alkohol eingeschränkt, er hat - in der eigentlich streng laizistischen Türkei - das Koransystem in Schulen integriert. All dies zeigt: Seine Politik wird zunehmend von religiösen Elementen bestimmt.

tagesschau.de: Hat er bei dieser Entwicklung eine Mehrheit der Gesellschaft hinter sich?

Tolun: Nein. Zum Beispiel auf die geplante Einschränkung des Abtreibungsrechtes haben insbesondere Frauen mit massiver Kritik reagiert.

Erdogan hat Anhänger, die Kopftuch tragen, die aber trotzdem gemäßigt sind, die gut mit einer modernen Gesellschaft leben können. Die Fundamentalisten sind in der Türkei eine Randerscheinung.

Seine Gegner vermuten eine "geheime Agenda"

tagesschau.de: Fast zehn Jahre lang hat er anders, gemäßigter regiert. Aus welchem Grund verändert sich das nun?

Tolun: Seine Gegner haben schon immer gesagt, Erdogan hätte eine "geheime Agenda". Damit meinten sie, dass er eine Vision einer türkischen Gesellschaft habe, die stärker von religiösen Elementen geprägt sei und mit der er eines Tages herausrücken würde.

1998 ist Erdogan wegen Missbrauchs der Grundrechte und -freiheiten verurteilt worden, nachdem er aus einem Gedicht zitiert hatte. Darin heißt es unter anderem: 'Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind'. Das hat sich in gewisser Weise bestätigt. Nach zehn Jahren an der Macht hat er begonnen, politische Entscheidungen zunehmend im Alleingang zu treffen und sich stärker an religiösen Elementen zu orientieren. 

Man kann aber nicht sagen, dass er hier versucht, stärker religiös geprägte Menschen zu erreichen. Sondern es handelt sich vielmehr um seine persönliche Vision, von der er sich leiten lässt.

"Die Menschen wollen sich nicht mehr bevormunden lassen"

tagesschau.de: Verändert er mit seinem persönlichen Wandel auch die türkische Gesellschaft?

Tolun: Nein, die türkische Gesellschaft ist wegen Erdogan nicht konservativer geworden. Im Gegenteil. Die augenblickliche Auseinandersetzung resultiert ja auch daraus, dass er die Gesellschaft immer stärker versucht, mit religiösen Elementen zu gängeln.

Die Proteste, die wir seit zwölf Tagen erleben, resultieren auch daraus, dass die Menschen sich nicht vorschreiben lassen wollen, wieviele Kinder sie bekommen oder wann sie Alkohol trinken sollen.

"Die Menschen sagen: Die Türkei muss endlich in die EU"

tagesschau.de: Wenn Erdogan das Land nun nach religiösen Visionen verändert, passt die Türkei dann noch nach Europa?

Tolun: Passt denn Ungarn nach Europa? Meiner Meinung nach gehört die Türkei ganz ohne Zweifel in die EU. Auch die Menschen, die derzeit in Istanbul, Ankara und Antalya gegen die Regierung demonstrieren, sagen: Die Türkei muss jetzt endlich in die EU, damit auch ein demokratisch gewählter Regierungschef nicht schalten und walten kann wie er will.

"Die muslimisch-demokratische Türkei ist nicht gescheitert"

tagesschau.de: Ist das Modell eines muslimisch-demokratischen Staates in der Türkei gescheitert?

Tolun: Erdogan hatte im Westen die Hoffnung ausgelöst, dass sich in muslimischen Ländern etwas entwickeln kann, wie wir das in Europa haben. Nehmen wir die CDU, die Christlich Demokratische Union: Die orientiert sich an religiösen Werten und gleichzeitig an der Demokratie. Viele in Europa hatten die Hoffnung, Erdogans AKP könnte etwa ein islamisches Äquivalent dazu werden, sozusagen eine Islamisch Demokratische Union.

Viele Jahre ging es in diese Richtung. Dafür sieht es im Augenblick nicht gut aus. Aber das würde ich eher fest machen an der Person Erdogan. Ich würde nicht sagen, dass eine muslimisch-demokratische Türkei gescheitert ist. Die Jahre, in denen das gut funktioniert hat, kann man nicht mehr ungeschehen machen.

tagesschau.de: Gibt es andere politische Protagonisten, die diese Rolle übernehmen könnten, die Erdogan nun nicht mehr ausfüllt?

Tolun: Nein, nicht außerhalb Erdogans Partei. Aber vielleicht irgendwann in seiner Partei - möglicherweise dann ohne ihn.

Das Gespräch führte Anna-Mareike Krause, tagesschau.de