Interview

Nach dem Nein zur Unabhängigkeit "Schottland blickt nun nach vorn"

Stand: 19.09.2014 13:06 Uhr

Schottland geht gestärkt aus dem Referendum hervor. In den Verhandlungen mit London könne Edinburgh nun auf mehr Autonomie pochen, sagt der Politologe Jan Eichhorn im tagesschau.de-Interview. Und die Unabhängigkeitsbewegung könnte schon bald neuen Aufwind bekommen.

tagesschau.de: Nur 45 Prozent der Wähler haben für eine Unabhängigkeit gestimmt. Warum ist das "No thanks" dann doch deutlicher ausgefallen als in den Umfragen prognostiziert?

Jan Eichhorn: Der Grund könnte sein, dass viele Leute bis zum Schluss anscheinend noch unentschieden waren. In den Umfragen lagen die Befürworter immer bei etwa 47 bis 48 Prozent. Diese Abweichung liegt also noch in der Fehlertoleranz der Umfragen. Von daher ist das "No thanks" zwar stärker ausgefallen als erwartet, aber als Ausreißer würde ich es nicht bezeichnen.

Zur Person

Dr. Jan Eichhorn ist Sozialwissenschaftler und lebt seit mehreren Jahren in Edinburgh. Er promovierte an der dortigen Universität und lehrt dort heute Politik. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Partizipation und Fragen der Autonomie der Regionen in Großbritannien.

tagesschau.de: Was hat den Ausschlag gegeben für die Wähler, sich gegen die Abspaltung zu entscheiden?

Eichhorn: Entscheidend war, dass die Ja-Seite es nie geschafft hat, die Wähler davon zu überzeugen, dass die wirtschaftliche Situation eines unabhängigen Schottlands besser wäre. Zwar hat die Zahl der Menschen zugenommen, die an ein unabhängiges und ökonomisch florierendes Schottland glauben. Aber es waren am Ende anscheinend nicht genügend Menschen davon überzeugt, dass man sich einen eigenen Staat leisten könne. Genuin politische Fragen haben eher eine untergeordnete Rolle gespielt.

Aufwind für Unabhängigkeitsbewegung?

tagesschau.de: Ist die Unabhängigkeitsbewegung damit am Ende?

Eichhorn: Nein, auf keinen Fall! Sie wird weiterleben, denn jetzt stehen Verhandlungen über die weitere Autonomie für Schottland an - das nächste Ziel heißt also "Devolution", die sanfte Loslösung von London. Dabei geht es etwa um Fragen der Haushaltsfinanzierung, der gesetzgeberischen Kompetenzen oder der Ausweitung von Steuerrechten.

Die Schotten werden jetzt pragmatisch sein und nach vorn blicken. Und wenn sich die Regierung in London nicht an ihre Zusagen hält, könnte das der Unabhängigkeitsbewegung in der Zukunft erneut einen Aufschwung bescheren.

Und ein weiteres wichtiges Datum steht quasi vor der Tür: Ein mögliches Referendum über einen EU-Austritt Großbritanniens 2017, das viele Konservative ja fordern. Die Mehrheit der Schotten will definitiv in der EU bleiben. Wenn sich die Mehrheit der Engländer für einen Austritt entscheidet, könnte es darüber erneut zu einem Bruch kommen.

Ralph Sina, R. Sina, WDR Brüssel, 19.09.2014 08:37 Uhr

tagesschau.de: Die Verhandlungen mit London sollen schon im November beginnen. Welche Auswirkungen hat das Ergebnis auf die Gespräche?

Eichhorn: Auch wenn die Abstimmung verloren ist - der gesamte Vorgang hat das schottische Selbstbewusstsein gestärkt, auch gegenüber London. Denn trotz der Niederlage hat der britische Premierminister David Cameron ja weite Zugeständnisse in punkto Autonomie gemacht. Großbritannien nähert sich dadurch mehr einer föderalen Lösung an.

Spaltung der schottischen Gesellschaft?

tagesschau.de: Glauben Sie, dass der Ausgang des Referendums die schottische Gesellschaft spalten wird?

Eichhorn: Viele Menschen sind sehr enttäuscht, weil sie sich einen eigenen Staat gewünscht hatten, das ist klar. Ich glaube aber nicht, dass das Ergebnis eine dauerhafte Spaltung hervorrufen wird. Denn in einem sind sich die Schotten einig: Sie wollen möglichst viel Autonomie von London. Und diesen Prozess wird die geamte Bevölkerung auch weiterhin kritisch begleiten.

Ein Nebeneffekt des Referendums ist eine breite Politisierung der Bevölkerung. Es haben sich tausende Menschen engagiert, die sonst wahrscheinlich nicht zu Wahlen gehen. Das sieht man auch an der Wahlbeteiligung von weit über 80 Prozent.

Cameron drohen Konflikte mit der eigenen Partei

tagesschau.de: Cameron hatte sich stets gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen - stärkt ihm das Ergebnis nun nicht den Rücken?

Eichhorn: Cameron wird das definitiv als Erfolg verkaufen, auch wenn es ihm nicht unbedingt anzurechnen ist. Er ist also gestärkt - einerseits. Denn auf der anderen Seite muss er sich nun auf Konflikte mit seiner eigenen Partei einstellen. Viele Konservative sehen die versprochenen Zugeständnisse an Edinburgh nämlich gar nicht gerne und könnten sie deshalb versuchen zu unterlaufen. Kurzfristig kann er sich also feiern lassen, langfristig drohen ihm aber schwere Konflikte: entweder mit den Schotten oder mit den konservativen Kräften in seiner Partei.

tagesschau.de: Der schottische Ministerpräsident Alex Salmond hat leidenschaftlich für die Unabhängigkeit gekämpft. Kann er sich angesichts der Niederlage weiter im Amt halten?

Eichhorn: Das Ergebnis ist ganz klar eine Niederlage für ihn, deshalb wird er sich auch einige Kritik anhören müssen. Er wird sich wohl an den Verhandlungen mit London noch beteiligen, aber mittelfristig, glaube ich, könnte es da einen Wechsel geben.

Das Interview führte Alexander Steininger, tagesschau.de