Interview

Aus dem Innenleben der Menschenschmuggler "Die Schleuser verkaufen Träume"

Stand: 04.04.2015 13:33 Uhr

Menschenhandel als Dienstleistung: Der Schleuser ist Reiseführer, der Flüchtling sein Kunde. Im Interview mit ARD-Korrespondent Jan-Christoph Kitzler berichtet der Kriminologe Di Nicola, wie Menschenschmuggler Millionen verdienen - und wie Europa ihre Geschäfte fördert.

ARD: Wie groß ist das Ausmaß des Geschäftes, das die Schleuserbanden machen?

Andrea di Nicola: Es ist sehr schwer, eine Zahl zu nennen. Das betrifft Abermillionen von Menschen. Das Ganze ist ständig in Bewegung. Wenn man bedenkt, dass schon die kleinen Schleuser jährlich 600, 700 Menschen schmuggeln und die großen Zehntausende. Und wenn man das wiederum mit den Zehntausenden der Schleuser multipliziert, dann kommt man auf eine ungefähre und dennoch wahrscheinlich realistische Schätzung von vielen Millionen Menschen, die mithilfe dieser Schleuser unterwegs sind.

ARD: Es handelt sich also um ein sehr großes Geschäft...

Di Nicola: Das ist ein enormes Geschäft, die Vereinten Nationen haben das auf viele Milliarden Dollar geschätzt. Ein großer Schleuser, einer wie die, über die wir in unserem Buch schreiben, verdient sechs, sieben Millionen Euro im Jahr - nur einer! Das ist ein enormer Geldfluss, der aus Ländern kommt, die wirtschaftlich gesehen ohnehin schon im Elend stecken. Ein unsichtbarer Geldfluss, der dann wieder in andere schmutzige Geschäfte investiert wird. Und vor allem: Er schwächt immer mehr die Länder, die ohnehin schon schwach sind, weil ihnen die Ressourcen fehlen.

Zur Person

Andrea Di Nicola lehrt als Kriminologe an der Universität Trient. Als Experte für organisierte Kriminalität war er an allen großen nationalen und internationalen Studien beteiligt und arbeitet für die UN und die EU. Für das Buch "Bekenntnisse eines Menschenhändlers" recherchierte er zusammen mit Giampalo Musumeci entlang der Hauptrouten illegaler Immigration und sprach mit zwölf Schleusern.

ARD: Sie haben sich mit den Flüchtlingsströmen nach Europa beschäftigt. Was ist daran so besonders?

Di Nicola: Wir haben mit den Bossen in diesem Geschäft gesprochen, aber auch mit kleinen Schleusern, die die Organisationen, für die sie arbeiteten, gut kannten. Da sieht man, dass es ein richtiges Unternehmertum und viel kriminelles Geschick gibt. Das sind keine Dummköpfe. Es sind Unternehmer, Geschäftsleute. Und die Losung heißt: Zusammenarbeit, Bündnis, Vertrauen, Geschäft. Diese Leute verkaufen Träume, das haben sie uns gesagt: Wir sind ehrliche Leute und verkaufen Träume. Und das machen sie, indem sie den ganzen Tag, darüber nachdenken, wie sie die Grenzen unseres Europa verletzen. 24 Stunden am Tag suchen Sie nach Wegen, die Schwachstellen auszunutzen. Die Routen und die Methode können sich dabei ständig ändern. Was konstant bleibt, ist ihre Art zu arbeiten und der Versuch, ungeschoren davon zu kommen. Denn die großen Bosse bleiben im Hintergrund und schicken die kleinen Fische vor.

Schleuser halten sich für Wohltäter

ARD: Die Routen ändern sich?

Di Nicola: Die Routen in diesem Geschäft ändern sich je nach Lage und Chancen. Die Route von Libyen aus übers Mittelmeer, die Migranten aus Afrika, aus Syrien und dem Mittleren Orient während der Zeit, in der die Operation "Mare Nostrum" lief (inzwischen eingestellte Mission der italienischen Marine zur Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer, Anmerk. der Red.), genutzt haben, ist inzwischen weniger wichtig. Die Türkei spielt eine immer größere Rolle als Auffangbecken und als Durchgangsland. Die Route über die Balkanländer, von der keiner spricht, ist wieder wichtiger geworden. Auf diesem Weg kommen sehr viele Flüchtlinge.  

Es gibt eine ständige Bewegung, eine ständige Suche nach der besten Gelegenheit. Das Flüchtlingsboot, das wir ankommen sehen, ist nur die Spitze eines Eisberges. Und wenn hier in allen Ländern Europas über eine Notsituation gesprochen wird, benutzen wir ein völlig unpassendes Wort. Für die Schleuser ist das keine Notsituation, sondern eine sichere und langfristige Arbeit, die sich immer besser eingespielt hat. Ihre Selbstwahrnehmung ist etwas speziell: Einige von ihnen haben uns gesagt: "Ich bin ein Wohltäter, die Menschen in Oberägypten küssen mir die Hände, wenn ich durch die Dörfer fahre. Sicher, wenn wir durch andere Dörfer fahren, bringen sie uns um, denn manchmal gehen die Schiffe unter und der eine oder andere stirbt. Natürlich will ich das nicht. Es passiert halt." Manche halten sich sogar für Moses. Wie um zu beweisen, dass es schon immer Schleusertum gegeben hat und dass Migration unaufhaltsam ist, quasi biblisch.

Eine große kriminelle Reiseagentur

ARD: Wie sieht das Verhältnis Schleuser-Flüchtling aus?

Di Nicola: Der Schleuser würde sagen, es ist ein Geschäftsverhältnis. Er ist mein Kunde. Man kann sich das wie die größte kriminelle Reiseagentur der Welt vorstellen, und die Schleuser sind die Reiseführer. Ich organisiere Reisen, wie viel kannst du zahlen? Je nach deinen Möglichkeiten mache ich dir ein Angebot, da gibt es die Luxusreise und die Low-Cost-Tour. Die Flüchtlinge sind in den Augen der Schleuser eine Ware, die man aber möglichst unbeschadet lassen muss. Die Schleuser, mit denen wir gesprochen haben, sagten uns, dass es ihrem Ruf schade, wenn Menschen sterben. Deshalb dürfe das nicht passieren und sie versuchen, das zu verhindern.

Der Flüchtling sieht im Schleuser dagegen einen Agenten - und einen Wohltäter. Ohne ihn komme ich nicht nach Italien, nach Deutschland, nach England. Ich habe keine Wahl, ich bin ein Flüchtling, ich brauche ihn. Er bringt mich ans Ziel. Das Risiko, dabei zu sterben, ist inklusive. Aber er gibt mir die Chance. Dieses Konzept der "Chance" hat sowohl der Flüchtling als auch der Schleuser: Die Chance, mein Leben zu retten, die Chance gute Geschäfte zu machen.

ARD: Was zahlen Flüchtlinge für ihre "Chance"?

Di Nicola: Sie bezahlen sehr viel Geld! Von Afghanistan oder Syrien kostet die Reise zwischen 7.000 und 10.000 Euro. Ein Vermögen für diese Menschen. Der Weg, den der Flüchtling bis zu seinem Ziel zurücklegt, kann auch sehr lange dauern - manchmal sind es Jahre! Es kann sei, dass er unterwegs anhalten, arbeiten, Geld verdienen muss, um dann die nächste Teilstrecke zu bezahlen. Es kann sein, dass sich seine ganze Familie verschuldet. Einige Schleuser kassieren erst am Ziel, nach dem Motto "zufrieden oder Geld zurück". Sie haben aber die Mittel, die Zahlung zu erzwingen. Es geht hier um sehr viel Geld.

Europas Abschottung fördert das Schlepper-Geschäft

ARD: Wie denken die Schleuser über ihre Arbeit?

Di Nicola: Ihrer Meinung nach tragen die Europäer eine Mitverantwortung für ihr Geschäft. Das ist natürlich auch eine Art, sich zu rechtfertigen und sich selbst freizusprechen. Doch all diese Schleuser haben uns dasselbe gesagt: Ihr sorgt dafür, dass wir Arbeit haben. Wenn ihr euch so verhaltet, verdiene ich mehr. Ihr schließt eure Grenzen und investiert nur in Abwehr, Unterdrückung, ihr finanziert die Grenzschutzagentur Frontex? Das alles bringt mehr Geld für mich, für meine Organisation, für mein Netzwerk.

ARD: Haben die damit Recht?

Di Nicola: Teilweise ja. Wir können schließlich nicht vorbehaltlos die Grenzen öffnen. Doch an diesen Geschichten sieht man, wo das System Europa verwundbar ist - und daran könnten wir arbeiten. Zum Beispiel die politischen Flüchtlinge, die Asyl beantragen: Die Schleuser bekommen immer öfter Geld von ihnen und bieten ihnen immer öfter ihre Dienste an. Das bedeutet, dass die Prozedur des Asylantrags in Europa problematisch ist und dass es den kriminellen Organisationen zugutekommt.

Ein pakistanischer Schleuser, den wir in Italien getroffen haben und der immer noch auf freiem Fuß ist, hat jedes Jahr 600 Landsleute hierher geschleust, indem er befristete Arbeitserlaubnisse benutzt hat. Diese 600 Leute - jeder zahlte ihm 7000 Euro - sind mit befristeten Arbeitserlaubnissen hierhergekommen. Das bedeutet: Da ist ein Fehler im System, das können wir verbessern. Wir können die Lücke schließen. Aber solange wir glauben, dieses Problem mit Bestrafung und Kontrollen und indem wir Barrieren hochziehen, bekämpfen zu können, sagen die Schleuser: Dann steigen eben die Preise. Es gibt keine gemeinsame Strategie in Europa, und deshalb machen die Schleuser so gute Geschäfte. Wir brauchen Barrieren, aber nicht solche.

Die Millionen für Frontex - rausgeworfenes Geld?

ARD: Was wären denn intelligente Barrieren?

Di Nicola: Es gibt keine gemeinsame Einwanderungspolitik der EU - das allein ist schon ein Problem. Zu denken, dass vor allem  Länder wie Italien, Griechenland und Spanien das Flüchtlingsproblem Problem haben, ist kurzsichtig. Denn nur sehr wenige "Kunden" bleiben in diesen Ländern. Sie wollen alle nach Deutschland, nach Schweden, nach England. Und sie gehen da auch hin, dafür bezahlen sie noch mehr Geld. Das bedeutet, dass das Einwanderungssystem so nicht funktioniert.

Frontex kostet jährlich zwischen 80 und 90 Millionen Euro - nur, um die EU-Außengrenzen zu schützen. Ein Schleuser verdient sechs Millionen Euro im Jahr, also etwas weniger als ein Zehntel von dem, was Frontex kostet. Die Millionen für Frontex sind rausgeworfenes Geld. Es hat keinen Sinn, nur die Küsten zu kontrollieren, denn viele Migranten kommen mit Flugzeugen. Das heißt, dass die Kontrollen sinnlos sind.

ARD: Könnte es eine Lösung sein, Flüchtlingen mehr legale Wege nach Europa anzubieten?

Di Nicola: Die EU hat gemeinsame Regeln für das Asylverfahren: Die Fingerabdrücke der Antragsteller müssen im ersten EU-Staat, in dem sie ankommen, genommen werden und hier muss auch über ihren Asylantrag entschieden werden. Aber das funktioniert nicht: Oft kommen sie in Ländern an, wo die Flüchtlinge kein Asyl beantragen wollen. Deshalb bitten sie die Schleuser, alles zu tun, damit sie an ihr Ziel ankommen.

Und dann ist es nicht normal, dass Abertausende von Menschen, die vor dem Krieg fliehen und die ein Recht auf Asyl haben, sich irgendwelchen Schleusern in der Türkei oder in Syrien anvertrauen. Warum können wir nicht an die Grenzen der Länder gehen, wo die Menschen flüchten und so wenigstens ihren Weg verkürzen, den sie sonst mithilfe von Schleusern zurücklegen? Okay, vielleicht brauchen sie Schleuser, um von Syrien in die Türkei zu kommen, doch dann müssten wir in der Türkei, einem Land, mit dem man verhandeln kann, ein europäisches Büro haben, wo man Asyl beantragen kann, ein Visum bekommt. Man muss eine Vision entwickeln. Doch das ist ein Thema, das die Leute erschreckt und das politisch ausgenutzt wird.

Nur die kleinen Fische gehen ins Netz

ARD: Ist es denn überhaupt eine gute Nachricht, wenn Schleuser gefasst werden?

Di Nicola: Meist handelt es sich dabei doch um die letzten Glieder in der Kette. Meist sind sie selber Flüchtlinge, die das Steuer und die Ruderpinne gerade halten können. Sie wurden angeworben und müssen dafür die Reise nicht bezahlen. Das ist der Familienvater, der ein Skipper oder Seemann ist und der Geld braucht. Der verdient sonst im Jahr nicht mal 300 Dollar. Natürlich begehen sie eine Straftat und müssen auch verfolgt werden. Doch wenn wir die ins Gefängnis stecken und nicht versuchen zu verstehen, was dahinter steckt, werden immer nur die kleinen Fische ins Gefängnis gehen. Und das organisierte Verbrechen fliegt nicht auf und wird auch nicht zerstört.

Das Gespräch führte Jan-Christoph Kitzler, ARD-Hörfunkstudio Rom

Anmerkung der Redaktion: Das Buch "Bekenntnisse eines Menschenhändlers: Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen" von Andrea die Nicola und Giampaolo Musumeci ist jetzt auch in Deutschland erhältlich.

Das Interview führte Jan-Christoph Kitzler, BR