Interview

Exit vom Brexit? "Schottland hat ein 'psychologisches Veto'"

Stand: 29.06.2016 15:35 Uhr

Kann Schottland den EU-Austritt Großbritanniens noch verhindern? Es gibt Möglichkeiten, sagt der britische Politologe Anthony Glees im Interview mit tagesschau.de. Und er ist sich sicher: Bevor Schottland die EU verlässt, verlässt es eher das Vereinigte Königreich.

tagesschau.de: Schottland hat mit 62 Prozent gegen den Brexit gestimmt. Kann es den Brexit stoppen?

Anthony Glees: Ein Veto hat Schottland nicht, zumindest nicht verfassungspolitisch. Die Schotten könnten der Regierung in Westminster den Brexit aber sehr schwer machen. Zum einen über den "Scotland Act", zum anderen über eine Art "psychologisches Veto", indem sie im Fall des Brexits in die Unabhängigkeit gehen und Großbritannien Schottland dann verlieren würde.

Anthony Glees
Zur Person

Anthony Glees, Politologe und Zeithistoriker, hat eine Professur an der University of Buckingham inne und leitet das Centre for Security and Intelligence Studies, BUCSIS. Als britischer Sohn zweier aus Deutschland emigrierter Eltern begreift er sich als Europäer und beobachtet die Europäische Union mit besonderem Interesse.

tagesschau.de: Welche Rolle spielt der "Scotland Act" im Brexit-Prozess?

Glees: Der "Scotland Act" besagt, dass die Schotten Gesetzen der britischen Regierung zustimmen müssen, wenn sie Schottland betreffen. Es ist schwer vorherzusagen, was genau passieren wird, denn eigentlich haben wir in Großbritannien keine schriftliche Verfassung so wie in der Bundesrepublik. Hier wird alles über Präzedenzfälle entschieden, aber den gibt es beim Brexit natürlich nicht. Schottland könnte sagen, die Bestimmungen im - nennen wir ihn jetzt mal so - Brexit-Vertrag, die Schottland angehen, nehmen wir nicht an. Dann könnten sie den Brexit blockieren. Aber niemand weiß, mit welcher Macht und für wie lange.

Viel wahrscheinlicher ist, dass die Schotten sagen würden, wenn Großbritannien aus der EU austritt, dann wollen wir unsere Unabhängigkeit und ein zweites Referendum - basta!

tagesschau.de: Kann Schottland denn einfach ein zweites Referendum durchführen?

Glees: Wenn die Schotten vereint unter Nicola Sturgeon die Unabhängigkeit wollen, dann wird es nicht gelingen zu sagen: Nein, das dürft ihr nicht. Schottland würde es tun. Es wäre eigentlich nur durch wirtschaftliche oder militärische Macht zu ändern - und wenn jemand sagen würde, die Engländer würden zu Waffen greifen, seien es wirtschaftliche oder echte Waffen, um Schottland innerhalb des Vereinigten Königreichs zu halten, dann wäre er wohl verrückt.

Es ist natürlich immer die Frage, ob Nicola Sturgeon und die SNP ein solches Referendum gewinnen würden - aber wir nehmen es stark an. Die SNP präsentiert sich als eine geschlossene Partei - völlig anders als Labour und Tories.

tagesschau.de: Andere Staaten müssen jahrelange Bewerbungsverfahren durchlaufen, um in die EU aufgenommen zu werden. Wie sähe das für einen unabhängigen Staat Schottland aus?

Glees: Wenn ein junger, frischer Staat, wie es das unabhängige Schottland wäre, an die Tür der EU klopft und die Tür nicht aufgemacht würde, dann würde das bedeuten, dass die EU das Vertrauen in sich selbst verloren hat. Ich glaube nicht, dass das passieren würde. Es ist richtig, dass José Barroso damals gesagt hat, auf keinen Fall dürfte Schottland, ohne in Großbritannien zu sein, EU-Mitglied sein oder den Euro annehmen - aber das war unter völlig anderen Umständen.

Der Brexit war nicht der Wille der Schotten, es war der Wille der Engländer und Waliser. Und Schottland könnte argumentieren: Wir sind nicht als Neumitglied anzusehen, das ist kein Neuantrag - wir wollen nur so bleiben, wie wir sind! 62 Prozent der Schotten wollen EU-Mitglied bleiben - wie kann Brüssel da sagen: Nein, das dürft ihr nicht.

tagesschau.de: Auch Nordirland hat für ein Verbleiben in der EU gestimmt. Zerbricht das Vereinigte Königreich am Brexit?

Glees: Zurzeit weiß kein Mensch, wie das ausgehen wird, auch ich nicht - es ist ein großes Durcheinander. Ich glaube, in Nordirland werden viele sagen: "Lieber in der Irischen Republik in der EU als eine EU-Außengrenze zwischen Nordirland und Irland!" Diese Grenze müsste ja auch sehr stark kontrolliert werden, wenn über diese Grenze keine Migranten kommen sollen.

Zitat

In jedem anderen Land hätte eine solche verfassungsändernde Entscheidung eine Zweidrittelmehrheit gebraucht!

Bei Schottland kann man mit großer Sicherheit sagen, wenn es zum Brexit kommt, dann werden sie unabhängig - und viele Engländer werden sagen, sie hätten gern einen schottischen Pass. Denn es stimmt nicht, dass Großbritannien für den Brexit gestimmt hat, fast genauso viele haben dagegen gestimmt. In jedem anderen Land hätte eine solche verfassungsändernde Entscheidung eine Zweidrittelmehrheit gebraucht.

tagesschau.de: Gibt es denn eine Chance für den Exit vom Brexit?

Glees: Es kann sein, dass jemand wie Gesundheitsminister Jeremy Hunt oder Innenministerin Theresa May es schafft, dass Großbritannien zur Besinnung kommt und begreift, dass es ein wahnsinnig großer, lebensverändernder Fehler war - nicht nur für die, die gewählt haben, sondern für die kommenden Generationen.

In der Brexit-Kampagne wurde viel gelogen. Es hieß, es sei möglich, eine Freihandelszone mit der EU zu haben, ohne die Gebühren an Brüssel zu zahlen. Und dabei verstehen wir Engländer doch besser als jeder andere, was es bedeutet, in einem Club zu sein. Wir sind eine Gesellschaft von Clubs! Man hält sich an die Regeln, zahlt seinen Beitrag und bekommt Vorzüge. Wie kommen die Briten auf den Gedanken, dass wir die Privilegien eines Clubs genießen werden, ohne unseren Beitrag zu zahlen?

Und wenn die 17,4 Millionen Brexit-Befürworter nicht bekommen, was ihnen versprochen wurde - werden sie missmutig zu Hause sitzen? Oder werden einige von ihnen auf die Straße gehen und Aufruhr machen? Und wird London sagen, wir lassen uns unseren Reichtum wegnehmen? Werden die Universitätsstädte sagen, wir lassen uns die EU-Forschungsgelder wegnehmen? Das kann man nicht sagen.

Das Interview führte Sabine Schaper, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 25. Juni 2016 um 08:17 Uhr