Tränengas breitet sich an der türkischen Grenze in der griechischen Region Evros aus.

Migranten in der Türkei "Die Grenze ist nicht offen"

Stand: 06.03.2020 16:32 Uhr

Knapp eine Woche nach der Öffnung der türkischen Grenze warnt der EU-Außenbeauftragte Migranten davor, sich dorthin auf den Weg zu machen. Am Übergang nach Griechenland kam es zu erneuten Ausschreitungen.

An der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei ist es erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Migranten und Einsatzkräften gekommen. Die griechische Polizei setzte Tränengas gegen Menschen ein, die versuchten, die Grenzzäune zu durchbrechen und in die EU zu gelangen. Etliche Migranten warfen wiederum mit Steinen nach den Einsatzkräften.

Die Regierung in Athen hielt der Türkei vor, Tränengas und Rauchgranaten auf griechische Grenzbeamte abgefeuert zu haben. Die Türkei verteile Schneidegeräte an die Menschen, damit sie die Grenzzäune durchtrennen könnten, behaupteten die Behörden.

Die Lage nahe dem Grenzübergang Pazarkule beruhigte sich nach kurzer Zeit. Hunderte Migranten versammelten sich daraufhin auf der griechischen Seite und skandierten "Freiheit", "Frieden" und "Öffnet die Tore!". Einige von ihnen hielten Schilder mit der Aufschrift "Wir wollen in Frieden leben" hoch.

"Geht nicht zur Grenze, die Grenze ist nicht offen", sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell an die Menschen gewandt, die auf Einlass in die EU hoffen. "Wenn wir kritische Situationen vermeiden wollen, müssen die Menschen die Wahrheit wissen." Meldungen über angebliche Grenzöffnungen nach Griechenland, Bulgarien oder Zypern seien falsch. "Lasst uns dieses Spiel beenden", sagte Borrell.

Migranten harren auf der türkischen Seite der Grenze nahe der Stadt Edirne aus.

Migranten harren auf der türkischen Seite der Grenze nahe der Stadt Edirne aus.

"EU-Recht nicht außer Kraft gesetzt"

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte vergangenes Wochenende verkündet, die türkischen Grenzen zu Griechenland seien geöffnet, da die EU sich nicht an das Flüchtlingsabkommen halte. Daraufhin brachen Tausende Migranten Richtung Grenze auf. Griechenland schloss als Reaktion seine Grenzen zur Türkei und kündigte an, einen Monat lang keine Asylanträge mehr zu bearbeiten. Insgesamt hat die Türkei bislang 3,6 Millionen Menschen aufgenommen und appelliert immer wieder an die EU, bei der Verteilung der Lasten zu helfen.

Die Bundesregierung pocht weiterhin darauf, dass geordnete Verhältnisse geschaffen werden müssten. "Das EU-Recht und internationales Recht ist nicht außer Kraft gesetzt", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts. Es sei eine besondere Lage, wenn mehrere Tausend Menschen gleichzeitig versuchten, sich Zugang zur EU zu verschaffen. "Das ist ja auch nicht per Zufall geschehen, sondern es war ein politisches Instrumentarium", sagte der Sprecher mit Verweis auf Erdogans einseitige Grenzöffnung. "Und selbstverständlich stellen sich in dieser Situation andere Fragen als bei einem geordneten Grenzübergang und müssen andere Maßnahmen ergriffen werden".

Die Lage an der türkisch-griechischen Grenze soll Regierungssprecher Steffen Seibert zufolge auch Thema im Koalitionsausschuss am Sonntagabend werden.

Umfrage: Mehrheit der Griechen für Grenzschutz

Die griechischen Behörden klagen seit langem über Überlastung. Einer Umfrage des Nachrichtensenders Skai zufolge begrüßen 76 Prozent der Griechen die harten Maßnahmen Athens an der Grenze zur Türkei - lediglich 18 Prozent sehen den Polizei- und Militäreinsatz demnach kritisch. Zum Bau geschlossener Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln gehen die Meinungen hingegen auseinander.

Besonders angespannt ist die Lage auf den Inseln in der Ostägäis: Dort harren mehr als 40.000 Menschen unter schwierigsten Bedingungen aus. Auf der kleinen Insel Kastelorizo etwa waren vor einigen Tagen mehr als 100 Migranten angekommen, die die rund drei Kilometer breite Meerenge zwischen der türkischen Küste und Kastelorizo überquert hatten. Die Bewohner seien mit ihrer Versorgung überfordert, klagte eine Mitarbeiterin des Bürgermeisters: "Wir sind hier wenige Hundert Einwohner. Wir können diese Flüchtlinge weder ernähren noch unterbringen", sagte Evdokia Karpathiou. "Die Lage ist dramatisch. Wir wissen nicht, was wir mit diesen Menschen tun sollen."

Aufrufe zur Hilfe aus Deutschland

In Deutschland mehren sich unterdessen die Stimmen derer, die Hilfe anbieten wollen. Ein überparteiliches Bündnis sieben deutscher Oberbürgermeister und des niedersächsischen Innenministers Boris Pistorius hat die Bundesregierung aufgefordert, sofort Kinder aus griechischen Migrantenlagern aufzunehmen. Die Situation in den völlig überfüllten Lagern sei "unhaltbar", heißt es in dem Appell, den neben Pistorius die Oberbürgermeister der Großstädte Köln, Düsseldorf, Potsdam, Hannover, Freiburg im Breisgau, Rottenburg am Neckar und Frankfurt-Oder unterzeichnet hatten.

Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, drang gemeinsam mit Kirchenvertretern und Verbänden auf Hilfseinsätze. "Ein neues Schutzprogramm für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge oder chronisch kranke Kinder ist auch aus meiner Sicht nötig", sagte sie der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Weder die Menschen in Griechenland noch die griechische Regierung dürften alleingelassen werden. Dass die EU-Staaten die Einrichtung eines funktionierenden gemeinsamen Asylsystems versäumt hätten, sei "beschämend".

UNHCR: Deutschland muss vorangehen

Auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) forderte mehr Einsatz von der Bundesregierung: "In dieser kritischen Situation kann Deutschland vorangehen, eine substanzielle Zahl von Schutzsuchenden aufnehmen und so helfen, Griechenland zu entlasten", sagte der Leiter der Rechtsabteilung der Berliner UNHCR-Vertretung, Roland Bank. "Das wäre nicht nur eine dringend gebotene humanitäre Geste an Menschen in Not, sondern auch ein wichtiges politisches Signal an andere Staaten, in einer Zeit, in der der Flüchtlingsschutz immer weiter unter Druck gerät."

Die Hilfsorganisation SOS-Kinderdörfer und kirchliche Jugendverbände forderten von der EU, Kinder und Familien aufzunehmen. Zudem müssten Gesundheitsversorgung und psychosoziale Unterstützung gewährt werden.

Helga Schmidt, Helga Schmidt, ARD Brüssel zzt. Zagreb, 06.03.2020 18:02 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 06. März 2020 um 15:15 Uhr.