Flüchtling bei Erdine
Reportage

Türkisch-griechische Grenze Gestrandet im Niemandsland

Stand: 02.03.2020 04:49 Uhr

Tausende Menschen harren an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei aus. Sie hoffen, es in die EU zu schaffen, doch die griechische Regierung will sie nicht einlassen. Die Verzweiflung wächst.

Sie kommen zu Fuß, mit dem Bus oder Taxi, über die Hauptstraße und über die vielen kleinen Feldwege - und treffen sich dann alle auf einem Weg: dem Richtung Grenzübergang.

"Wir können ohne Probleme durchlaufen, die türkischen Gendarme halten uns nicht auf, sie fragen uns nichts", erzählt Reza, ein junger Mann aus dem Iran. Hinter ihm läuft gerade wieder ein Schwung an Leuten vorbei, einige ziehen Rollkoffer hinter sich her. Andere haben dicke Rucksäcke auf dem Rücken, aber die meisten der Flüchtlinge tragen das bisschen, was sie besitzen auf dem Leib.

Grenzübergang bei Erdine

Der Grenzübergang bei Erdine bleibt für Flüchtlinge derzeit geschlossen.

Nur noch weg

Der Syrer Weil ist gerade erst mit seiner Familie angekommen. Sie schleppen unzählige Plastiktüten mit Brot und Windeln für seine Kinder, drei hat er, keines älter als fünf Jahre. "Ich will nach Europa, deswegen werde wir jetzt abwarten. Vielleicht wird die Grenze ja noch geöffnet", sagt er. "Im Fernsehen haben wir gehört, dass der Weg zur Grenze jetzt frei ist für uns. An die griechische Grenze. Wir sind aus Kahramanmarasch hierher gekommen, mit einem Taxi, das sind 1200 Kilometer. Wir wollen nach Frankreich, weil meine Eltern da sind." Sechs Jahre hat der 27-jährige in der Türkei gelebt, spricht Türkisch. Trotzdem will er weg, zu seiner Familie.

Reza, der junge Iraner, hat sogar in der Türkei studiert, Jura. Auch er sieht hier keine Zukunft. Er ist Bahai, damit gehört er nicht nur zu einer nichtmuslimischen religiösen Minderheit im Iran. Er wurde dort auch verfolgt, sagt er: "Es ist mir egal wo, aber ich möchte mir eine Existenz aufbauen. Ich möchte in ein Land, das sich nicht in meinen Glauben einmischt. Die Türkei ist ok, aber nicht gut für uns. Warum? Die erste Frage, die man mir hier immer stellt, ist: Welcher Konfession gehörst Du an?"

Griechenland schottet sich ab

Er hatte gleich in der Nacht zum vergangenen Freitag das Gerücht gehört, dass die Türkei die Grenzen in die EU aufmacht. Danach hat er sich sofort auf den Weg gemacht, erzählt der 31-jährige: "Wir waren mit die ersten, die angekommen sind, ich und ein paar Freunde. Wir waren immer in der vordersten Reihe. Es kam sowas wie ein Botschafter, ein Grieche, der hat zu uns gesprochen. Er hat gesagt, man warte auf Anweisungen aus Europa. Wir haben ihm gesagt, dass wir ja gar nicht vorhaben, in Griechenland zu bleiben und dass wir nur durch das Land durch wollen um nach Europa zu gelangen. Er hat gesagt, wir sollen warten, bis Anweisungen kommen."

Im Moment scheint Europa, und Griechenland nur eine Antwort zu haben: die Grenze zu sichern und die Flüchtlinge auf keinen Fall reinzulassen. Sie abzuwehren mit allen Mitteln: "Sie haben aus einem Meter Entfernung Gas geschossen auf einen Mann, aus nur einem einzigen Meter Entfernung", berichtet Reza. "Gestern, habe ich gehört, sollen hier zwei Kinder gestorben sein, durch Gasgranaten. Wer übernimmt die Verantwortung dafür? Welches Land? Deutschland, Europa... wer, wer wird reagieren?"

Kälte und wenig Essen

Hüseyin übernimmt die Verantwortung auf seine Weise. Der Rentner aus Istanbul hat am Morgen sein Auto vollgeladen. Jetzt verteilen er und seine Töchter Orangen, Kekse und Wasser: "Wir helfen den Flüchtlingen, die hier gerade vorbeikommen. Diese Menschen sind gerade in einer sehr schwierigen Situation", sagt er.

Reza kommt zurück von der Grenze. Er will sich in Edirne was zu Essen besorgen und vielleicht ein paar Decken: "Die meisten campieren in der Pufferzone, manche auch im Wald. In der Nacht ist es eiskalt, und es gibt wenig zu essen, und viele haben nichts Warmes anzuziehen. Das sind grade unsere größten Sorgen."

Er selbst hat einen langen schwarzen Parka an, viele andere Flüchtlinge nur Sweatshirt-Jacken. Ihre Babys sind oft nur in ein dünnes Tuch gewickelt. Im Niemandsland zwischen der türkischen und der griechischen Grenze haben sie angefangen Zelte aus Planen zu bauen.

Reza will noch ein paar Tage bleiben, auch wenn er weiß: "Es ist hoffnungslos durchzukommen. Unser Leben interessiert niemanden. Die Internationale Gemeinschaft, die Vereinten Nationen stellen sich tot."

Verständnis für Erdogan

Viele der Flüchtlinge sind wütend auf die Griechen, die sie nicht reinlassen, nicht auf den türkischen Präsidenten Erdogan. Auch der Rentner mit den Hilfspaketen sieht das so: "Naja, im Fernsehen hat es der Präsident ja schon gesagt; Wir haben Europa gesagt, dass es uns helfen soll, hat es aber nicht. Unsere Kapazitäten sind ausgeschöpft. Was sollen wir denn sonst machen?", fragt Hüseyin.

Damit spricht er für viele Türken. Vier Millionen Flüchtlinge leben in ihrem Land, teils seit Jahren. Nun könnten noch deutlich mehr Migranten aus der nordsyrischen Region Idlib kommen. Dort werden die Kämpfe um die letzte Rebellenhochburg immer heftiger. Die türkische Armee kämpft auf Seiten der Rebellen gegen das syrische Regime und dessen Schutzmacht Russland. Erdogan fordert internationale Unterstützung und versucht die Europäer und die NATO unter Druck zu setzten.

Reza zögert erst, dann muss er es doch loswerden: "Man betrügt uns, wir werden benutzt als Druckmittel. In Wirklichkeit interessiert sich niemand für uns."

Karin Senz, Karin Senz, ARD Istanbul, 02.03.2020 06:02 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die Tagesschau Einhundert am 02. März 2020 um 04:49 Uhr.