Fahnen der EU und der Türkei wehen vor einer Moschee in Istanbul

EU-Verhältnis zur Türkei Im Beziehungschaos

Stand: 26.12.2017 11:00 Uhr

Das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei schwankte 2017 zwischen eisiger Distanz und Signalen der Annäherung. Folgt 2018 ein weiterer Tiefpunkt oder setzt sich der jüngste Trend zur Entspannung fort?

Eine Achterbahnfahrt der Gefühle ist die EU im Umgang mit der Türkei eigentlich gewöhnt. Doch solche Extreme wie in den vergangenen zwei Jahren durchlebten die Brüssel-Ankara-Beziehungen selten. Sah so mancher mit dem im Frühjahr 2016 besiegelten Flüchtlingsdeal auch einen neuen Partnerschafts-Frühling heranbrechen, herrschte im Sommer 2017 dann völlige Eiszeit.

Ende der Beitrittsverhandlungen nicht mehrheitsfähig

"Ich werde mit meinen Kolleginnen und Kollegen in Brüssel noch mal reden, ob wir hier zu einer gemeinsamen Position kommen können und die Beitrittsverhandlungen auch beenden können", versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang September, als sie im Wahlkampf-TV-Duell mit SPD-Kandidat Martin Schulz unter Druck geriet.

TV-Duell

Im TV-Duell vor der Bundestagswahl ließ sich Kanzlerin Merkel die Zusage abringen, auf EU-Ebene einen Vorstoß zum Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu starten - es geschah aber nichts.

Doch beim entscheidenden EU-Gipfel im Oktober versuchte Merkel es dann gar nicht erst - wohl wissend, dass nicht mehr als eine Handvoll EU-Staaten ein offizielles Ende der Türkei-Beitritts-Gespräche befürworten würden.

EU kürzte Milliardenhilfen für die Türkei

Worauf sich die Europäer im Herbst sehr wohl einigten: Sie kürzten wegen der bedrückenden Menschenrechtslage in der Türkei milliardenschwere Hilfsgelder - die sogenannten Vorbeitrittshilfen.

Die Türkei entferne sich schrittweise, "manchmal auch mit Riesenschritten - von der Europäischen Union", beklagte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker bereits Anfang August im Interview mit dem ARD-Studio Brüssel. Bis dahin war im Jahr 2017 schon viel geschehen: Ein Verfassungsreferendum, das den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu einer Art Alleinherrscher zu machen droht. Nazi-Vergleiche eben jenes Präsidenten an die Adresse Deutschlands und der Niederlande. Und die Erdogan-Entscheidung, ein neues Raketen-Abwehr-System nicht etwa bei einem NATO-Partner, sondern in Moskau einzukaufen.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker

EU-Kommissionspräsident Juncker sprach bereits im Sommer von einer wachsenden Distanz der Türkei zu Europa.

Gerade den Syrien-Krieg betreffend schmiedeten der türkische und der russische Präsident eine bis vor kurzem noch undenkbar scheinende Allianz. "Weil die EU ein total wirkungsloser Akteur in dieser Region ist, zwingt das die beiden zur Zusammenarbeit", meint der Türkei-Experte der Denkfabrik Carnegie Europe, Sinan Ülgen.

Späte Fortschritte in deutsch-türkischem Verhältnis

Doch je mehr das Jahr zur Neige ging, umso deutlicher wurden auf einmal die Anzeichen einer vorsichtigen Entkrampfung der deutsch-türkischen Beziehungen. Zuvor waren diese vorübergehend - auch infolge des Abzugs der Bundeswehr-Tornado-Jets aus dem Stützpunkt Incirlik - vollends erkaltet. Doch die Freilassungen der Journalistin Mesale Tolu und des Menschenrechtlers Peter Steudtner aus türkischer Haft trugen zur leichten Stimmungsaufhellung bei.

"Jedenfalls sind beide Seiten bemüht, Wege zu finden, wie wir angemessen miteinander umgehen", erklärte der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel kürzlich im ARD-Interview. Entscheidend dafür, welche Wendung die Beziehungen 2018 nehmen, dürfte am Ende der Fall des - weiterhin ohne Anklageschrift - inhaftierten Journalisten Deniz Yücel werden.

Knackpunkt Zollunion

2018 wird sich entscheiden, ob auch das EU-Türkei-Verhältnis weiter eisig bleibt oder vertieft wird: Die Regierung in Ankara hat - genau wie die EU-Kommission - ein gigantisches Interesse daran, Handelsbarrieren abzubauen, sprich: die Zollunion auszuweiten. Das wird wegen der erbärmlichen Menschenrechtslage derzeit von Deutschland und anderen blockiert.

Es ist der vermutlich mächtigste Hebel, den die EU hat: Bewegt sich in Sachen Zollunion nichts, dürfte das Präsident Erdogan viel mehr wehtun als das so viel diskutierte Ende der Beitrittsverhandlungen. Letztlich wird sich Erdogan entscheiden müssen: Ob er mit verbalem Einprügeln auf die EU bei seinen Anhängern punkten will oder doch eher mit wirtschaftlichem Erfolg.   

Kai Küstner, Kai Küstner, NDR Brüssel, 26.12.2017 10:59 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 26. Dezember 2017 um 10:00 Uhr.