Türkei und Europa Eine bewegte Beziehung

Stand: 17.03.2016 08:06 Uhr

Seit Jahrzehnten bemüht sich die Türkei um eine Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft. Jetzt geht die EU auf das Land zu - aber der ideale Zeitpunkt für die Annäherung ist vielleicht schon vorüber.

Wenn man es etwas überspitzt, könnte man sagen: Die Türkei ist mit der EU seit über 50 Jahren verlobt - ohne dass die Europäer ihr Heiratsversprechen je wahr gemacht hätten. Bereits vor über einem halben Jahrhundert beantragte die Türkei, Teil der Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG) zu werden, der Vorgängerin der EU.

1963 schlossen die beiden ein Assoziierungsabkommen - mit der Aussicht auf künftige Vollmitgliedschaft. In der NATO war das Land am Bosporus zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon längst: "1952 wurde die Türkei Mitglied der NATO. Gemeinsam mit dem Beitritt Griechenlands stärkte das die Möglichkeit, den Frieden in Europa zu erhalten", heißt es in einem Video der US-Streitkräfte von Anfang der 1950er-Jahre.

Ein halbes Jahrhundert unerfüllter Versprechen

Die Türkei war also - auch weil sie als Bollwerk und Pufferzone gegen die kommunistische Sowjetunion diente - schon früh sorgsam eingebettet in wichtige westliche Institutionen. Und schon damals wurden Themen besprochen, die einem heute merkwürdig bekannt vorkommen:

"Was Reisen ohne Visum nach Europa betrifft - so bekam die Türkei das Versprechen vor mehr als einem halben Jahrhundert", sagt die Türkei-Expertin Amanda Paul von der Brüsseler Denkfabrik "European Policy Center". "Trotzdem ist die Türkei heute der einzige Beitrittskandidat, der keine Visa-Freiheit genießt. Natürlich passiert das mit Absicht, weil die Europäer bislang nicht wollten, dass fast 90 Millionen Türken das Recht haben sollten, sich frei in der EU zu bewegen. Aber das hat in Ankara für sehr viel Verbitterung gesorgt."

Entfremdung von beiden Seiten

Was war geschehen, dass aus der doch einigermaßen engen Beziehung nie eine echte Ehe wurde? Die Türkei selbst trug sicher entscheidend dazu bei: Unter anderem durch ein militärisches Eingreifen in Zypern Mitte der 1970er-Jahre.

Gleichzeitig brauchten die Europäer die Türken nach Ende des kalten Krieges nicht mehr so dringend wie in der Zeit davor, so Paul: "Deshalb ist der Beitrittsprozess in den letzten Jahren im Grunde eingefroren worden. Vor allem aus politischen Gründen: Einige EU-Staaten blockierten die Eröffnung von neuen Beitrittskapiteln - weil sie nicht wollten, dass die Türkei Mitglied wird."

Obwohl die Türkei seit 2005 offiziell Gespräche über einen Beitritt mit der EU führt, ist man bislang nicht weit gekommen. Zu den Blockierern gehörte immer wieder Frankreich und Kanzlerin Merkel hat nie verheimlicht, dass sie sich die Türkei nicht in der EU wünscht - was mit dazu beitrug, dass sich die Verhandlungen mehr schlecht als recht voranschleppten.

Jetzt ist Ankara am Zug

Jetzt aber haben die EU und gerade Angela Merkel entdeckt, dass sie die Türkei in der Flüchtlingskrise dringend brauchen: "Das ist die einmalige Chance für die Türkei, von der EU etwas zu bekommen", meint Paul. "Ich hoffe aber, dass die Europäer ihre Lektion gelernt haben: Denn all das, was sie jetzt wollen, hätten sie längst haben können. Dann säßen sie jetzt am längeren Hebel."

Politikexpertin Amanda Paul ist nicht die einzige, die der EU vorwirft, den entscheidenden Annäherungszeitpunkt vor Jahren verpasst zu haben, als Präsident Erdogan noch auf demokratischerem und westlicherem Kurs unterwegs war. Ob es jetzt noch möglich sei, ihn wieder auf den Menschenrechtspfad zurückzuführen, sei fraglich.

Bei all dem ist auch klar: Nur weil der Beitrittsprozess jetzt wieder beschleunigt werden soll, heißt das noch lange nicht, dass die Türkei wirklich EU-Mitglied wird. Und: ob sie die einst so ersehnte Europäische Ehe überhaupt noch will.

Kai Küstner, K. Küstner, NDR BRüssel, 17.03.2016 00:04 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 17. März 2016 um 10:25 Uhr