EU-Fortschrittsbericht zur Türkei Schelte für einen wichtigen Partner

Stand: 10.11.2015 11:39 Uhr

Der Fortschrittsbericht der EU zur Türkei klingt in vielen Bereichen eher nach Rückschritt: Die EU kritisiert Mängel im Bereich Meinungs- und Pressefreiheit, Defizite im Rechtswesen und bei der Einbindung von Minderheiten. In einem Bereich gab es aber auch Lob.

Seit 1999 ist die Türkei ein EU-Beitrittskandidat, die Verhandlungen laufen seit Ende 2005. Und mit Blick auf den neuen Fortschrittsbericht der EU dürfte sich an diesem Status so schnell nichts ändern. Die EU-Kommission wirft der Türkei darin vor, zentrale Menschen- und Grundrechte zu beeinträchtigen. "Es hat einen bedeutenden Rückgang im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit gegeben", heißt es dort.

Johannes Hahn, EU-Kommissar für Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen

Erweiterungskommissar Hahn sieht große Mängel in der Türkei bei der Einhalung grundlegender Rechte.

Insgesamt gebe es in dem Land "einen negativen Trend beim Respekt der Rechtsstaatlichkeit und grundlegender Rechte", sagte der zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn. Fortschritten bei der Annäherung an die EU stünden Schritte gegenüber, die "gegen europäische Standards verstoßen". Die EU-Kommission forderte die Regierung auf, "diese dringenden Prioritäten anzugehen".

Der Schutz der Menschen- und Grundrechte habe sich zwar "in den vergangenen Jahren deutlich verbessert", erklärte die EU-Kommission. "Es bleiben aber große Mängel." Die Türkei müsse insbesondere wirksam die Rechte von Frauen, Kindern, Homosexuellen garantieren und die soziale Einbindung von Minderheiten wie den Roma sicherstellen.

Verhältnismäßigkeit bei Anti-Terror-Maßnahmen wahren

Die jüngste Eskalation der Gewalt im Osten und Südosten des Landes habe darüber hinaus "zu ernster Besorgnis mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen geführt". Die EU forderte Ankara auf, Verhältnismäßigkeit bei Anti-Terrormaßnahmen zu wahren. In dem Bericht bedauert die EU auch, dass der Friedensprozess mit den Kurden wieder gestoppt worden sei. Die türkische Regierung hatte sich im Sommer dazu bereit erklärt, in Syrien gegen die Terror-Gruppe "Islamischer Staat" vorzugehen. Kritiker weisen jedoch darauf hin, dass die Militärs seitdem viel öfter Kurden-Stellungen angegriffen hätten als die der Islamisten.

Einschüchterung von Journalisten

"Beträchtliche Besorgnis" äußert die EU-Kommission angesichts laufender und neue Strafprozesse gegen Journalisten, Autoren oder Nutzer sozialer Medien. Sie sprach von "Einschüchterung von Journalisten und Medienfirmen sowie das Vorgehen der Behörden bei der Beschränkung der Medienfreiheit". Auch die Änderung der Internet-Gesetzgebung sei "ein bedeutender Rückschritt".

Verstärkte Kooperation angesichts der Flüchtlingskrise

Die EU-Kommission war unter Druck geraten, weil sie den türkischen Fortschrittsbericht nicht mehr vor der Parlamentswahl am 1. November veröffentlicht hatte, die die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan gewonnen hatte. Der Vorwurf von Kritikern lautet: Die EU habe Präsident Erdogan nicht verärgern wollen und die Türkei-Kritik bis nach den Wahlen zurückgehalten. Im Gegenzug erwarte die EU ein Entgegenkommen der Regierung in Ankara in der Flüchtlingspolitik. Die Europäer verhandeln gerade mit der Regierung in Ankara über einen Aktionsplan in Sachen Flüchtlinge. Die Türkei soll nach dem Willen der EU ihre Grenzen verstärkt sichern. Dafür stellt sie Geld und Visa-Erleichterungen für türkische Bürgerinnen und Bürger in Aussicht.

Das Verhalten der Türkei in der Flüchtlingskrise wurde denn auch im Fortschrittsbericht gelobt: Die Türkei habe in beispielloser Weise Schutzsuchenden aus Syrien und dem Irak Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen, heißt es dort. Insgesamt befinden sich derzeit über zwei Millionen Flüchtlinge im Land. EU-Kommissar Hahn sagte, die Kooperation mit Ankara im Bereich Flüchtlingspolitik solle ausgeweitet werden. Und nicht nur die Türkei hat er im Blick: "Die derzeitige Flüchtlingskrise zeigt, welche Bedeutung einer engen Zusammenarbeit zwischen der EU und den Ländern in Südosteuropa zukommt."

Mit Informationen von ARD-Hörfunkkorrespondent Kai Küstner.

Kai Küstner, Kai Küstner, NDR Brüssel, 10.11.2015 13:08 Uhr