EU-Bericht zur Türkei Rückschritt statt Fortschritt

Stand: 09.11.2016 17:16 Uhr

Scharf wie nie zuvor kritisiert die EU die Politik der Türkei unter Präsident Erdogan. Die jüngsten Entwicklungen seien "zunehmend unvereinbar" mit dem EU-Beitrittswunsch. Der jährliche Fortschrittsbericht ist daher eigentlich ein Rückschrittsbericht.

Es gab durchaus Vorwürfe an die Adresse der EU in den vergangenen Tagen, sie würde nicht entschlossen genug handeln im Umgang mit der Türkei. Doch dass die Europäische Union die Situation in dem Partnerstaat schönreden würde, lässt sich nicht gerade behaupten. Der für die EU-Erweiterung zuständige Kommissar Johannes Hahn fand jedenfalls jetzt deutliche Worte an die Adresse Ankaras, als er den jüngsten Türkei-Bericht vor EU-Parlamentariern vorstellte: "In unserem diesjährigen Report heben wir die Rückschritte der Türkei auf dem Gebiet des Rechtsstaats und der Grundrechte hervor. Die seit Juli ergriffenen Maßnahmen, inklusive die der letzten Tage, werfen eine Reihe sehr ernster Fragen auf, die an die Grundfesten des Rechtstaats gehen."

Keine Kompromisse

Zwar gesteht die EU-Kommission der Türkei durchaus zu, dass sie auf den versuchten Militärputsch im Juli schnell habe antworten müssen. Die Europäische Union habe ja auch zu den ersten gehört, die diesen "Angriff auf die Demokratie" verurteilt habe. Der nun veröffentlichte Bericht kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass die Regierung in Ankara in ihrer Reaktion auf den Umsturzversuch schlicht zu weit gegangen ist: "Der große Umfang und die kollektive Natur der Maßnahmen, die in den letzten Monaten ergriffen wurden, wirft ernste Sorgen auf. Die Türkei als Beitrittskandidatin muss den Rechtsstaat und die Grundrechte betreffend höchsten Maßstäben gerecht werden. Dazu hat sich das Land verpflichtet, und da kann es keine Kompromisse geben", so EU-Kommissar Hahn.

Der von ihm vorgestellte Report, offiziell Fortschrittsbericht genannt, bescheinigt der Türkei Rückschritte unter anderem bei der Meinungsfreiheit: Er listet die hohe Zahl an Verhaftungen von Journalisten auf. Und mahnt Ankara, beim Vorgehen in den Kurdengebieten, die Menschenrechte zu wahren. "Die Festnahme von Parlamentsabgeordneten der HDP-Partei und auch der beiden Parteivorsitzenden, trägt zu unserer Sorge bei. Und hat die Situation im Südosten des Landes verschärft", sagte Hahn.

Abbruch der Gespräche? Lieber nicht

So hart wie nie zuvor prangert die EU also das jüngste Vorgehen der türkischen Regierung und Präsident Erdogan an. Bislang sind die Europäer allerdings nicht bereit, auf vereinzelte Forderungen einzugehen, die Beitrittsgespräche auf Eis zu legen. Das würde Erdogans Anti-EU-Rhetorik noch in die Hände spielen, geben Experten zu bedenken. Zudem beraube man sich, so die Befürchtung, bei einem Abbruch sämtlicher Gesprächsbrücken auch noch des letzten verbliebenen Rests an Einfluss, den man auf Ankara habe. Die düstere Zustandsbeschreibung durch EU-Kommissar Hahn lässt dieser in die Worte münden: "Diese Aktionen und auch Überlegungen, die Todesstrafe wieder einzuführen, scheinen zunehmend unvereinbar zu sein mit dem offiziellen türkischen Wunsch, ein Mitglied der Europäischen Union zu werden."

Es sei Zeit, so schloss der EU-Kommissar, dass die Regierung in Ankara der EU sage, was sie nun wirklich wolle. Es stehe schließlich die Glaubwürdigkeit der Türkei, aber auch der Europäischen Union auf dem Spiel.

Die Rufe nach einem Einfrieren oder gar völligen Abbruch der Beitrittsgespräche werden nun aber lauter: Aus allen Parteien, von den Konservativen, Sozialdemokraten und Grünen im EU-Parlament sind sie zu hören. Und sie dürften nicht leiser werden, wenn die Situation am Bosporus so bleibt wie sie ist. Interessant zu beobachten dürfte sein, ob die Partner EU und Türkei es schaffen, ihr Auseinanderdriften zu stoppen. Dabei sehen die Europäer den Ball im Feld Ankaras liegen - der türkische Präsident Erdogan sieht hingegen die EU in der Pflicht.    

Kai Küstner, K. Küstner, ARD Brüssel, 09.11.2016 13:25 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete WDR 5 am 09. November 2016 um 13:50 Uhr im "Mittagsecho".