Analyse

Türkei und Syrien Die Kurden in Syrien: Freund oder Feind?

Stand: 18.02.2016 11:45 Uhr

Für die türkische Regierung sind die syrischen Kurden Terroristen. Von den Amerikanern werden sie im Kampf gegen den "Islamischen Staat" unterstützt. Welche Rolle spielen PYD und YPG wirklich?

Eine Analyse von Reinhard Baumgarten, SWR

Für die Türkei besitzt die syrische Grenzstadt Azaz eine herausragende strategische Bedeutung. Sie war bislang wichtige Durchgangsstation zur Versorgung Hunderttausender Zivilisten in Aleppo sowie für die Unterstützung von ausgewählten syrischen Rebellengruppen. Ankara will unbedingt verhindern, dass Azaz unter die Kontrolle der Yekineyen Parastina Gel YPG gerät. Die "Volksverteidigungseinheiten" der syrischen Kurden sind der militärische Arm der Partiya Yekitiya Demokrat - der Partei der Demokratischen Union, PYD. Die PYD ist 2003 gegründet worden und steht in enger Verbindung mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die auch von der türkischen Regierung der EU und den USA als Terrororganisation angesehen wird.

800 Kämpfer auf dem Weg nach Azaz

Laut türkischen Medienberichten sowie Berichten der in London ansässigen Syrischen Beobachtungstelle für Menschenrechte haben seit Sonntag mehr als 800 Kämpfer die türkische Grenze passiert, um den Fall von Azaz zu verhindern. Es soll sich dabei sowohl um so genannte moderate syrische Rebellen, als auch um islamistische Kämpfer einschließlich Anhänger der IS-Terrormiliz gehandelt haben. "Unter Aufsicht der türkischen Behörden" hätten sie am Kontrollpunkt Öncüpinar/Bab al-Salam die Grenze mit leichten und teilweise schweren Waffen überquert, so berichtet die Syrische Beobachtungstelle für Menschenrechte.

PYD ist für Ankara Terrororganisation - für die USA nicht

Ankara betrachtet auch die PYD und deren militärischen Arm YPG als Terroristen. Diese Einschätzung wird von Washington nicht geteilt. Für die Obama-Administration sind die YPG-Kämpfer die effektivste Kraft auf syrischem Boden im Kampf gegen die IS-Terrormiliz.

Brett McGurk ist der von Präsident Obama ernannte Sonderbeauftragte zur Koordinierung des Kampfes gegen den im Nahen Osten "Daesh" genannten "Islamischen Staat". McGurk war unlängst in der nordsyrischen Stadt Kobane, die monatelang er­folgreich von YPG-Einheiten gegen den IS verteidigt wurde. Laut internationalen Medienberichten hat McGurk in Kobane unterstrichen, dass die USA "die YPG nicht als Terrororganisation betrachten und sie weiterhin unterstützen und ausrüsten werden". Diese Aussage hat den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu der wütenden Frage an Washington veranlasst: "Seid ihr unsere Verbündete, oder seid ihr Verbündete der Terroristen?"

US-Luftwaffe unterstützt syrische Kurden

Die YPG verfügt unterschiedlichen Quellen zufolge über 30.000 bis 50.000 aktive Kämpfer bei einem Frauenanteil von 35 bis 40 Prozent. Die außerordentlichen Erfolge der YPG gegen die IS-Terrormiliz sind auf massive Unterstützung durch die US-Luftwaffe zurückzuführen. Hinzu kommen seit Oktober 2015 die Luftangriffe russischer Kampfbomber auf konkurrierende Rebellengruppen im Norden Syriens.

Ziel der PYD ist es, ein zusammenhängendes Gebiet entlang der türkischen Grenze zu kontrollieren, das die drei mehrheitlich von Kurden bewohnten Kantone al-Hasaka, Kobane und Afrin miteinander verbindet. Ankara will das verhindern, weil es darin die Vorstufe eines unabhängigen Kurdenstaats in Syrien sieht und Auswirkungen auf die eigene gut 15 Millionen Menschen starke kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei befürchtet.

Regierungschef Ahmet Davutoglu wirft der linksgerichteten syrischen YPG vor, gemeinsam mit Russland und syrischen Streitkräften syrische Zivilisten anzugreifen sowie „ethnische Säuberungen und Kriegsverbrechen im Norden Syriens zu begehen. Sie attackieren Kurden, Araber und Turkmenen, die nicht so denken wie sie“, so Davutoglu.

Türkei verteidigt Beschuss als Selbstverteidigung

Seit dem vergangenen Wochenende beschießt das türkische Militär mit schwerer Artillerie mutmaßliche Stellungen der YPG und deren verbündete Milizen auf syrischem Bo­den. Regierungschef Davutoglu rechtfertigt dies mit dem Recht auf Selbstverteidigung. Die Aggression, so der 57-Jährige, gehe von der YPG aus. "Wir werden gegen jeden Schritt (der YPG) Vergeltung üben. Die YPG und ihre Hintermänner sollten die Haltung der Türkei kennen. Die YPG hat Azaz und seine Umgebung sofort zu verlassen und sich ihr nicht mehr zu nähern." Aufrufe unter anderem aus Washington und Paris, den Beschuss sofort einzustellen, wies Ankara zurück.

80.000 Flüchtlinge im Grenzgebiet

Das Vorrücken der YPG durchkreuzt die türkischen Pläne, Flüchtlinge in grenznahen Lagern auf syrischem Gebiet zuverlässig versorgen zu können und damit den Zuzug weiterer Flüchtlinge ins Land zu begrenzen. Mit dem Artilleriebeschuss von YPG-Stellungen wolle die Türkei sicherstellen, dass "Flüchtlinge im Gebiet von Azaz sicher verweilen können", so Davutoglu. Unweit dem Grenzübergang Öncüpinar/Bab al-Salam haben türkische Hilfsorganisationen auf syrischem Gebiet acht Lager eingerichtet und versorgen dort gut 80.000 Flüchtlinge.

Ankara macht sich für eine zehn Kilometer tiefe Sicherheitszone auf syrischem Gebiet entlang der türkischen Grenze stark, die auch die Stadt Azaz einschließen würde. Diese Idee wird jedoch zunehmend unwahrscheinlicher: Von der Türkei unterstütze Rebellengruppen geraten unter Druck, durch das Vorrücken der YPG-Einheiten und der Truppen des syrischen Machthabers Bashar al-Assad, die durch russische Luftangriffe gestärkt werden. Der Versorgungskorridor in Richtung Aleppo ist bereits südlich der von Kurden kontrollierten Gebiete durch Assad-Truppen mehrfach blockiert. Der Türkei droht bei einer weiteren Eskalation im Norden Syriens eine neue Flüchtlingswelle mit Zehntausenden oder gar Hunderttausenden Menschen.