Interview

Experte zu Lehren aus Afghanistan "Syrien-Einsatz kommt viel zu spät"

Stand: 02.12.2015 18:46 Uhr

Aus den Fehlern in Afghanistan hätte die Bundesregierung lernen müssen, meint Afghanistan-Experte Ruttig im tagesschau.de-Interview. Die Bundeswehr habe eigene Sicherheitsinteressen in den Vordergrund gestellt und - wie in Syrien - zu zögerlich gehandelt.

tagesschau.de: Beim Besuch des Präsidenten Ghani in Berlin hat sich einmal mehr gezeigt, dass in Afghanistan vieles im Argen liegt. Wie schätzen Sie die Situation im Land derzeit ein?

Thomas Ruttig: Wir haben heute ein nie dagewesenes Niveau der Gewalt und die höchste Zahl ziviler Opfer überhaupt. Gleichzeitig sind die Taliban so verbreitet wie nie. Ein interner Bericht des Auswärtigen Amtes besagt, dass die Hälfte der knapp 400 afghanischen Distrikte heute entweder als sehr gefährlich oder extrem gefährlich gelten.

Zur Person

Thomas Ruttig ist Ko-Direktor des "Afghanistan Analysts Network" mit Sitz in Berlin und Kabul. Er hat in den vergangenen Jahren die UNO, die EU und die deutsche Botschaft in Kabul beraten und zahlreiche Publikationen zum Konflikt in Afghanistan veröffentlicht.

tagesschau.de: Welchen Anteil daran haben ausländische Streitkräfte?

Ruttig: Die westliche Intervention ist sowohl Teil der Lösung als auch Teil des Problems geworden. Sie hat das Hauptproblem in Afghanistan nicht gelöst, nämlich den Krieg zu beenden. Nachdem man ins Land eingerückt war, war das Taliban-Regime relativ schnell gefallen, Al Kaida deutlich beschnitten. Zwischen 2001 und heute ist der Krieg aber wieder eskaliert. Nachdem es in den ersten Jahren relativ ruhig gewesen ist, hat man den Fehler begangen zu glauben, die Sache sei geklärt.

Gleichzeitig haben sich die westlichen Regierungen zu sehr darauf konzentriert, die wiedererstarkten Taliban zu bekämpfen. Dabei sind die zivilen Komponenten der Intervention immer mehr in den Hintergrund getreten: Also die Stabilisierung des Landes, der Staatsaufbau und der Aufbau von Institutionen.

"Strategielosigkeit und zu viel Optimismus"

tagesschau.de: Welche Fehler hat insbesondere Deutschland gemacht?

Ruttig: Am Anfang war es eine Mischung aus Strategielosigkeit und dem Willen, der Bündnisverpflichtung mit den USA nach 9/11 nachzukommen. Man war zu optimistisch und dachte, mit dem Sturz des Taliban-Regimes könne es eigentlich nur noch bergauf gehen. Deutschland hat sich ja über Jahre geweigert, die Lage in Afghanistan einen Krieg zu nennen. Das böse Erwachen kam mit den ersten Anschlägen auf Bundeswehrsoldaten.

tagesschau.de: Was hätte man bei einer realistischeren Einschätzung anders machen können?

Ruttig: Man wäre sicherlich robuster, wie es in der NATO-Sprache heißt, ins Land gegangen. Also von vornherein mit mehr Soldaten und besserer Ausstattung. Zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Großteil der afghanischen Bevölkerung diesen militärischen Einsatz noch befürwortet hat. Man hätte den Anfängen wehren können. Stattdessen hat man die eigenen Sicherheitsinteressen über die der Afghanen gestellt, um die es ja eigentlich ging.

"Den Afghanen Aufbau ihres Landes aus der Hand genommen"

tagesschau.de: Hätte man diese Fehler im Laufe der Jahre nicht korrigieren können?

Ruttig: Die Hauptfehler wurden am Anfang gemacht und es hat sich als sehr schwierig erwiesen, diese falschen Weichenstellungen wieder rückgängig zu machen. Der Kampf hätte nicht nur den Taliban gelten dürfen, sondern man hätte auch die Warlords entwaffnen müssen, wie es eigentlich vereinbart wurde. Das sind Verbündete des damaligen Präsidenten Karsai gewesen, die Kriegsverbrechen begangen und für Misswirtschaft gesorgt haben. Auf diese Weise trug man zu einer Polarisierung in der Bevölkerung bei. Man konnte nur Karsai oder die der Taliban wählen, dazwischen gab es nichts.

Andererseits hat man den Afghanen den Aufbau des Landes quasi völlig aus der Hand genommen. Die Bundeswehr hätte sich darauf beschränken sollen, die Sicherheit herzustellen und beim Aufbau zu helfen, anstatt diesen selbst zu organisieren. Am Ende haben wegen der prekären Sicherheitslage die Entwicklungshilfegelder, die in großen Summen aus den USA und der EU nach Afghanistan geflossen sind, nichts genützt. Es kann nicht einfach darum gehen, mit mehr Geld nach den Problemen zu werfen.

"Syrien: Militärisches Eingreifen zu spät"

tagesschau.de: Was kann die Bundesregierung aus den Fehlern früherer Auslandseinsätze beim jetzigen Einsatz in Syrien lernen?

Ruttig: Es ist schwierig hier Parallelen zu ziehen, weil die Ausgangssituation der Länder völlig verschieden ist. In Afghanistan hätte man nach dem raschen Sturz der Taliban eine echte Chance gehabt. In Syrien kommt der Beschluss, militärisch einzugreifen zu einem sehr späten Zeitpunkt. Der Bürgerkrieg ist in vollem Gange und ist mit seinen verschiedenen Gruppierungen so unübersichtlich, dass mir Afghanistan im Vergleich fast einfach vorkommt. Hier ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Da hätte man schon bei den ersten Demonstrationen, die Assad niedergeschlagen hat, etwas tun müssen.

Meine Schlussfolgerung wäre, frühzeitig auf Konflikte zu blicken, die noch nicht voll ausgebrochen sind und früher einzugreifen, und nicht ausschließlich mit militärischen Mitteln. Derzeit müsste man zum Beispiel viel stärker nach Westafrika oder Zentralasien schauen, wo neue Konflikte ausbrechen könnten.

"Syrieneinsatz ist Symbolpolitik"

tagesschau.de: Ist Deutschland zu zögerlich beim Eingreifen in solche Konflikte?

Ruttig: Man kann zumindest feststellen, dass Deutschland immer noch versucht, bei Kampfhandlungen nicht in der ersten Reihe zu stehen. Stattdessen schickt man Aufklärungsflugzeuge, Schiffe und Logistik, um die eigenen Opfer zu minimieren.

Aber ich will damit nicht sagen, dass Deutschland jetzt beispielsweise in Syrien voll eingreifen sollte. Weil hier überhaupt nicht sicher ist, gegen wen eigentlich gekämpft werden soll. Zwar ist klar, dass sowohl Assad als auch der IS gefährlich für die Bevölkerung sind, aber die Allierten sehen das jeweils unterschiedlich. Und es ist überhaupt nicht klar, wer die Verbündeten sind. Dennoch: Der jetzige Einsatz ist in erster Linie Symbolpolitik und kommt sehr spät.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de