Interview

Interview zur Konfrontation in Kairo "Mursi ist unterschätzt worden"

Stand: 01.12.2012 10:08 Uhr

Ägyptens Präsident Mursi hat die Opposition überrumpelt. ARD-Korrespondent Armbruster sagt im Interview mit tagesschau.de, Mursi sei lange unterschätzt worden. Mursi reagiere aber auch auf Versuche der Justiz, seine Politik zu hintertreiben. Wie weit der Wandel gehe, müssten erst die Parlamentswahlen 2013 zeigen.

tagesschau.de: Erst stellt sich Präsident Mursi per Dekret über die Justiz, dann wird die neue Verfassung durchgepeitscht – ist das eine Art Machtergreifung?

Jörg Armbruster: Ich wäre mit solchen Begriffen vorsichtig. Mursi hat ja ausdrücklich gesagt, dass seine "Machtergreifung" eine Maßnahme auf Zeit ist. Jetzt ist ein Verfassungsentwurf vorgelegt worden, im nächsten Jahr soll ein neues Parlament gewählt werden. Dann geht es darum, ob die Muslimbruderschaft und die Salafisten ihre überwältigende Mehrheit halten können. Erst wenn das Ergebnis der Wahl vorliegt, wird klar sein, ob man von einem muslimisch geprägten Staat reden kann.

Zur Person

Jörg Armbruster war Leiter des ARD-Studios in Kairo und berichtetete über die Entwicklungen in Ägypten, Libyen und Syrien. Bei einer Recherchereise in Syrien wurde der ARD-Journalist vor einigen Wochen schwer verletzt.

tagesschau.de: Zunächst soll ja ein Referendum über die neue Verfassung abgehalten werden. Das müsste aber von Richtern überwacht werden, und die streiken gegen ihre Entmachtung. Wie ist dieser Konflikt lösbar?

Armbruster: Das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob Mursi und sein Kabinett eine Vorstellung davon haben, wie sie das Referendum ohne die gesetzlich vorgeschriebene Beteiligung der Richter durchführen können. Die Abstimmung soll ja noch im Dezember über die Bühne geben, aber ohne die Richter wird es dem Referendum an Glaubwürdigkeit mangeln.

tagesschau.de: Mursi hat ja sein Vorgehen mit einer Bedrohung für die Revolution begründet und damit vor allem die Justiz gemeint. Wie stichhaltig sind denn die Vorwürfe?

Armbruster: Mursi hat Richtiges gemeint, aber falsch gehandelt. Richtig ist, dass Teile der Justiz und insbesondere die höhere Justiz - also das Verfassungsgericht und das Oberste Verwaltungsgericht - in den vergangenen Monaten versucht haben, die Politik Mursis zu behindern. Das Parlament ist aufgelöst worden, das Verfassungsgericht hat zugesehen, wie das Militär versucht hat, dem Präsidenten vor der Wahl die wichtigsten Vollmachten zu nehmen.

Von daher hat Mursi nicht unrecht, wenn er die Richter kritisch betrachtet und fürchtet, dass sie ihre Obstruktionspolitik weiter betreiben. Es stand ja auch im Raum, dass die verfassungsgebende Versammlung noch einmal aufgelöst wird. Dann hätte Ägypten wieder von vorne anfangen müssen. Mursi hat aber den falschen Weg gewählt, und deswegen gehen die Menschen auch wieder auf den Tahrir-Platz, weil sie fürchten, dass Mursi sich zum Alleinherrscher aufschwingen wird.

Nicht für die Mülltonne

tagesschau.de: Ist es denkbar, dass Mursi über diesen Protest stürzt?

Armbruster: Damit rechne ich nicht. Der frühere Präsident Mubarak ist zwar auch über die vielen Menschen auf dem Tahrir-Platz gestürzt, aber auch, weil ihn das Militär fallengelassen hat. Hierfür gibt es im Moment keine Anzeichen. Es dürfte zunächst mal bei der Verfassung in der vorgelegten Form bleiben. Es ist keine gute Verfassung - hier hat Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei recht. Allerdings wird sie nicht, wie von ihm vorhergesagt, in der Mülltonne landen, weil sich vorläufig keine Mehrheit für einen anderen Verfassungsentwurf finden wird. Die Opposition muss sich fragen, ob sie in der jüngsten Zeit nicht zu zerstritten war und ob sie nicht besser beraten wäre, sich in einem gemeinsamen Block aufzustellen, um dem großen Block der Islamisten Paroli bieten zu können.

tagesschau.de: Woran scheitert ein solches gemeinsames Handeln der Opposition?

Armbruster: Dort gibt es viele Chefs und wenige Krieger. Man streitet sich auch über die Richtung, kleinere Parteien wollen sich nicht den größeren unterordnen. Das ist aber wohl typisch für eine Übergangssituation, dass kleinere Parteien untereinander zerstritten sind und nicht die Vernunft aufbringen, sich zusammenzutun, weil jeder dann zurückstecken müsste.

tagesschau.de: Halten Sie es für möglich, dass als Folge der aktuellen Entwicklung der Block aus Muslimbrüdern und Salafisten bei den Parlamentswahlen seine Mehrheit verlieren könnte?

Armbruster: Das hängt von der Alternative ab – und die sehe ich derzeit nicht. Es kann sein, dass die Salafisten Stimmen verlieren, weil sie sich als völlig unfähig erwiesen haben. Aber davon würden dann die Muslimbrüder profitieren, sodass sich an dem zahlenmäßigen Verhältnis von Islamisten zu Säkularen nichts ändern dürfte. Die säkularen Kräfte haben es nicht geschafft, eine Partei auf die Beine zu stellen, die auch den Bauern auf dem Land überzeugt. Man muss nur die Programme nebeneinander legen. Die Muslimbrüder können immer auf ihre sozialpolitischen Maßnahmen verweisen. Die Sozialdemokraten können nur auf Papier verweisen.

Alte Generäle geschickt kaltgestellt

tagesschau.de: Präsident Mursi wirkt - von außen betrachtet - bedächtig, hat sich zuletzt außenpolitisch als Vermittler gegeben, handelt im Inneren aber wie ein zu allem entschlossener Machtpolitiker. Hat die Bevölkerung, hat die Opposition ihn unterschätzt?

Armbruster: Wir haben ihn alle etwas unterschätzt, auch wir Beobachter haben ihn belächelt, als er als Präsidentenkandidat antrat. Er galt als Kandidat zweiter Wahl, weil ursprünglich ein anderer Kandidat für die Muslimbrüder ins Rennen gehen sollte. Dass er ein geschickter Taktierer ist, wurde uns klar, als er im August innerhalb von nur 24 Stunden die Militärspitze entließ und den Militärrat aushebelte, indem er den Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte und des Militärrats lukrative Posten gab und alle nachrückenden Generäle schnell beförderte. Das war ein geschickter Schachzug. Mursi entwickelt sich immer mehr zu einem Machtpolitiker, auch wenn er vielleicht aus Mangel an Erfahrung nicht immer geschickt handelt. Aber er will ja einen Teil seiner Macht nach der Abstimmung über die Verfassung zurückgeben.

tagesschau.de: Halten Sie das für glaubwürdig?

Armbruster: Das bleibt abzuwarten. Sollten die Proteste gegen ihn in der kommenden Woche wieder abflauen, womit ich rechne, und sollte Mursi dann sein Versprechen brechen, wird es wieder große Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz geben. Die jungen Leute sagen: ‚Auch wenn wir nach Hause zurückkehren: Wir wissen immer, wo wir hingehen müssen – auf den Tahrir-Platz.‘ Und das kann Mursi auf Dauer nicht riskieren.

Das Militär will keine Rolle mehr spielen

tagesschau.de: Der frühere Präsident Mubarak kam aus dem Militär und stützte sich jahrzehntelang auf die Armee. Welche Rolle spielen die Generäle heute?

Armbruster: Sie spielen insofern eine wichtige Rolle, als sie versuchen, keine Rolle zu spielen. Sie haben in der neuen Verfassung bekommen, was sie bekommen wollten. Sie stellen weiter einen Staat im Staate dar. Ihr Budget wird nicht vom ganzen Parlament, sondern nur von einem Parlamentsausschuss kontrolliert. Dieses Budget ist riesig. Das ägyptische Militär hat einen riesigen Wirtschaftsapparat hinter sich, der geschätzt 20 Prozent des Bruttosozialproduktes erwirtschaftet. Dieses Geld wird nicht kontrolliert, und damit sind die Militärs vorerst zufrieden.

tagesschau.de: Wie sollte das Ausland auf diese Entwicklung reagieren? Im jüngsten Nahost-Konflikt hat der Westen Mursi sehr gelobt. War das ein Fehler?

Armbruster: Man muss abwarten, wie er sich verhält, wenn die Verfassung tatsächlich verabschiedet wird. Gibt er dann Macht ab und fügt sich in die Verfassung, schreibt er schnell Parlamentswahlen aus? Man darf Ägypten nicht fallenlassen. Es geht ja auch um viel Geld, um Darlehen aus dem Ausland, etwa vom Internationalen Währungsfonds, der Darlehen geben soll. Und die Ägypter selbst haben ein Recht, auch durch internationale Hilfe ihre eigene Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Wenn die Wirtschaftslage so schlecht bleibt, dann wird die Revolution scheitern.

Das Interview führte Eckart Aretz, tagesschau.de